„Auf meinem Grabstein sollte stehen, / Dass ich nie aufgehört habe, zu leben“. (VORSCHLÄGE FÜR DIE GESTALTUNG MEINES GRABSTEINES; S. 100).
Horst Samson liebt es, mit Sprache zu spielen, um so seinen Leser zu überraschen und ihn zum Denken anzuregen. Paradoxie scheint ein beliebtes Mittel zu sein, denn schon der Titel seines 2013 veröffentlichten Gedichtbandes enthält einen Widerspruch, der dem Leser eine neue Welt eröffnet: Wie könnte ein Schweigen hörbar werden? Laut Samson, bleibe nämlich keines ungehört. Spielerisch versieht der Dichter seinen Gedichtband mit zwei Verneinungen und vereint unter dem angeblichen Paradoxon einschneidende Lebenserfahrungen aus der widersprüchlichen Welt der Existenz bzw. des Schreibens unter der Diktatur. Gleichzeitig bietet aber Samson auch Einblick in die Welt des Emi- und Immigranten, wobei Insider wissen, dass die Auswanderungen in den Westen als Konsequenz der rumänischen kommunistischen Diktatur aufzufassen sind.
Die Verse des Bandes „Kein Schweigen bleibt ungehört“ betrachtet der Dichter selbst unter anderem als Kriegsgedichte, wobei er sich konkret auf den „Krieg des Emigranten um den Platz in einer neuen Welt“ bezieht, genauer auf die existentiellen Anpassungsschwierigkeiten an das Leben in Deutschland nach der Auswanderung aus Rumänien 1987. Unterschwellig durchzieht aber das Motiv des Krieges den ganzen Gedichtband: Zahlreiche Texte bieten nämlich ein desolates Bild des Dichters zu kommunistischen Zeiten, der Kampf mit der Zensur und Diktatur nimmt die Gedanken und Empfindungen des lyrischen Ichs vollkommen in Anspruch. Eine schizophrene, entfremdete Welt des kommunistischen Rumäniens offenbart sich dem Leser, gleichzeitig entpuppt sich Deutschland ebenfalls als eine „bedrohliche“ und „herzlose“ Welt: Die neue „Drei-A-Welt, als Ausländer, Asylanten und Aussiedler sprachlos nach sich selbst fahndeten, um zu Jenen von sich zu sprechen, die ihnen nur in seltenen Fällen zuhörten.“ (S. 154)
Inhaltlich gesehen, lässt sich im vorgestellten Band kein roter Faden im eigentlichen Sinne verfolgen. Die Gedichte, so Samson, widerspiegeln Träume, Freude, Trauer in einem Durcheinander, das der Dichter nach seiner Ausreise aus Rumänien 1987 erlebte: „Ich war mal da, mal dort, mal dort, mal da, manchmal mehr dort als mehr da, oder genau umgekehrt, verkehrt vielleicht, vielleicht irgendwo im Nirgendwo oder nirgendwo im Irgendso.“ (S. 153) Die Verse lassen sich aber um drei große Themen bündeln: Auswanderung und Exil, Absurdes Dasein im Kommunismus, Nationalsozialistische Vergangenheit der Vätergeneration. Das Exil kennzeichnet sich durch Boden- und Orientierungslosigkeit, das lyrische Ich kämpft, seinen Platz in der neuen Welt zu finden: „Zwischen zwei Sprachen / Auf den gespannten Faden. Wo willst du? / Zu wem?“ (S. 7). Die lyrische Aufnahme der neuen Welt ist von Entfremdung gekennzeichnet, der Text „Weihnachten im Westen“ veranschaulicht, wie fremd das lyrische Ich das „Wunder“ des Westens empfindet.
Viele Gedichte thematisieren aber das Thema des Schreibens unter der Diktatur. Die Absurditäten des Alltags werden nüchtern beschrieben, der Leser bleibt mit einem bitteren Nachgeschmack einer entfremdeten Welt.
Durch die strenge Überwachung der Securitate und der Zensur lebt das lyrische Ich fortwährend unter Bedrohung. Somit sind die Gedichte, die die kommunistische Diktatur in den Mittelpunkt stellen, ebenso Kriegsgedichte, sie zeigen nämlich den Kampf mit den Instrumenten der Diktatur – mit den Beamten der Securitate, mit Abhörgeräten („Protokoll. Die Mauer / Schreibt mit. |…| Was wäre / Ohne uns die Wanze.“, S. 122.), mit dem Schreibverbot („Hineingeboren schreiben wir genervt / Mit kalter Tinte dem Staat. Und Gedichte. / Schreiben uns die Schubladen hinter / Die Ohren, schwer wie Gewichte / Schreiben wir uns auf |…|, S. 44).
Hiermit ist der Titel „Kein Schweigen bleibt ungehört“ aufschlussreich: Das System hatte sich bis in die 1980er Jahre so perfektioniert, dass jedwede Unterlassung der Verpflichtungen bzw. der Kontrolle und Überwachung nicht in Frage kam. Die erhebliche Verhärtung des literarischen Lebens in Rumänien kommt deutlich aus Samsons Versen zur Geltung. „In jeder Zeile, die ich schreibe,/ Friert die Tinte, erstarren die Wörter,/ Die Sätze, die Finger“ (S. 86), Literatur wird dem Dichter zum Verhängnis, „Sie hängt dich auf mit deinen eigenen / Sätzen oder sie entführt dich gekonnt / An unbekannte Orte und drückt dir langsam / Das Herz ab, das völlig wehrlose Herz.“ (S. 47)
Weiterhin spielt sich der Krieg für das lyrische Ich ebenfalls an einer anderen Front ab – der Auswanderung sowie des Heimatverlustes. Im Schreiben wird erneut eine Heimat gefunden: „Gedichte/ sind ein Zuhause / Für alle / Die keins haben“ (S. 126). Viele Gedichte thematisieren die Auswanderung („Grenzbahnhof Curtici“, S. 77; „Fahrwind“, S. 78) sowie die ersten Erfahrungen im Westen: „Übergangswohnheim für Aussiedler“ (S. 79), „Morgenstunde im Lager“ (S. 112). Das lyrische Ich pendelt dabei zwischen der neuen und alten Heimat, das Wunder des Westens lässt auf sich warten, der Wohlstand als Errungenschaft des Kapitalismus wird ironisiert: „Ich bin uralt geworden in einem Jahr,/ Schreibe über hormonverseuchtes Kalbsfleisch,/ Über ölige Erde und die Invasion des Mülls in Form/ Von bunten Schachteln, schreibe über Pferdemarkt und/ Politik, Altkleidersammlungen, mit dem Computer/ Um das nackte Geld“ („Brief an die Zurückgebliebenen“, S. 40). Typische Aspekte des Emigrantenlebens werden angesprochen: Bürokratie, Arbeitslosigkeit, Schreibschwierigkeiten, Überleben der eigenen Identität.
Einen besonderen Stellenwert nimmt auch die Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit ein. Das Gedicht „Pünktlicher Lebenslauf“ offenbart „den schrecklichen unendlichen Krieg“, es beschreibe eine „Generation in ihrem existentiellen Verständnis“ (S. 149): „Nachts setzt sich Vater/ Den Stahlhelm auf, / steckt sein Gebetbuch/ In seine Brusttasche / Und fährt mit einer schwarzen NSU/ Durch das Minenfeld bei Narwa/ In Richtung Leningrad./ Morgens um fünf/ Ist er wieder da.“ (S. 100). In dem Text „Über die Endlosschleife“ (S. 145-150) wird ebenso die nationalsozialistische Vergangenheit durch die eigene Familiengeschichte angesprochen. Die Zwitterstellung des Vaters zwischen Opfer und Täter wird aus einem persönlichen und subjektiven Erlebnis zur Kollektiverfahrung der deutschsprachigen Minderheit in Rumänien. Wie wichtig diese Vergangenheit für die Deutschstämmigen ist, soll an Hand des angeführten Exkurses hervorgehoben werden. Von Bedeutung in dieser Hinsicht ist auch die Wahl des Fotos auf dem Bildumschlag – es zeigt den Vater in Uniform auf einem Motorrad.
Der Lyrikband „Kein Schweigen bleibt ungehört“ führt den Leser in eine Welt der Entfremdung ein. Die Ästhetik des fremden Blickes lässt sich nicht nur bei Herta Müller sondern auch in der Lyrik Horst Samsons des Öfteren feststellen. Die Absurdität des Alltags im Kommunismus, teils auch im Kapitalismus, führen dazu, dass das natürliche Vertrauen in die Dinge verloren geht, und die Umwelt nicht mehr als selbstverständlich aufgefasst wird. Samsons Band vereint folglich Generationen und Welten, die auf den ersten Blick von einer tiefen Kluft getrennt zu sein scheinen.