Der kalte Wintertag im Januar 1945 sollte als erste Kindheitserinnerung in mein Gedächtnis eingehen, obwohl ein tragischer Vorfall meine Familie am ersten Weihnachtstag heimgesucht hatte: der plötzliche Tod meiner zwei Jahre älteren Schwester, die einer Diphtherieerkrankung im Alter von sechs Jahren erlag. Die Erinnerung an sie löschte sich aus meinem Gedächtnis, doch nie aus aus dem unserer Eltern, die den Schlag nie überwunden haben. Und nun traten plötzlich an diesem 13. Januar zwei bewaffnete Soldaten, ein russischer und ein rumänischer, in unserer Wohnküche ein und forderten meinen Vater auf, sich das Nötigste in einen Tornister zu stecken und ihnen zu folgen. Auch nach 75 Jahren ist dieses Bild lebhaft in meiner Erinnerung.
Erst nach zwei Jahren traf ein erstes Schreiben, eine russische Postkarte, bei meiner Mutter ein, so dass sie informiert war, dass ihr Gatte und mein und meines vier Jahre älteren Bruders Vater noch lebt. Und weitere drei Jahre mussten verstreichen, bis wir ihn am ehemaligen alten Bahnhof von Kronstadt Anfang Dezember 1949 wieder sahen. Es war nicht der mir bekannte kräftige Mensch, sondern ein abgemagerter Mann mit Bart, in einer russischen Wattekleidung, mit einem großen Verband, in den die rechte Hand gehüllt war. Im letzten Jahr hatte er noch einen Arbeitsunfall erlitten und dadurch fast den Arm verloren.
Doch durch einen Eingriff in Stalino – mein Vater verbrachte die fünf Jahre im Lager von Makejewka – konnte der Chirurg ihm die Hand retten, die aber teilweise steif blieb. Den Bogen der Violine konnte er nach Monaten somit am Daumen halten und wieder spielen. In einer kleinen Band mit zwei weiteren Musikern konnte er sich so das Einkommen in einer Gaststätte aufrunden. Parallel dazu spielte er auch im semisinfonischen Orchester in Rosenau, geleitet von Friedrich Stolz, und dann in dem der Kronstädter Redoute. Viele der Zwangsdeportierten haben Ähnliches erlebt, doch nur wenige von diesen leben noch um darüber zu berichten.
Bei der Gedenkfeier an die 75 Jahre seit Beginn der Deportation am 24. und 25. Januar l.J. in Reschitza soll dieses Willküraktes gedacht werden.
Es sind Erinnerungen, die mich Zeit meines Lebens nie verlassen sollten. Als im Kronstädter Kreisforum unter Anleitung von Architekt Günther Schuller der Verein der Russland-Deportierten gegründet wurde, plädierte ich in meiner damaligen Eigenschaft als Vorsitzender des Kreisforums für ein Treffen der ehemaligen Deportierten, das wir unter großer Beteiligung von rund 700 Personen am 16. Juni 1991 in Neustadt organisieren konnten.
Mit Unterstützung der Mitglieder des Vorstandes des Kreisforums, des Verbandes der Russlandeportierten, des Zeidner Kurators Arnold Aescht, der sich besonders dafür einsetzte, konnten wir die Gedenkfeier anlässlich der 46 Jahre seit der Deportation erstmals nach der politischen Wende entsprechend feiern. Der Bischof der Evangelischen Kirche A.B. in Rumänien, Dr.Christoph Klein, hielt die Predigt in der übervollen Kirche in Neustadt, im Gemeinschaftssaal wurde das Programm mit Festansprachen, Kulturdarbietungen und Verköstigung abgehalten.
Vier Jahre später wurde in Kronstadt vom 13. - 15. Januar 1995 in einer landesweiten Gedenkfeier , die gemeinsam vom Landes- und Kreisforum organisiert worden war, den 50 Jahren seit der Deportation gedacht. Daran beteiligten sich zahlreiche ehemalige Deportierte, Rumäniendeutsche, die aus allen Landesgebieten diesem Willkürakt ausgesetzt worden waren.
Eingeladen dazu wurde auch der damalige Staatspräsident Ion Iliescu, der aus terminlichen Gründen nicht an den drei Tagen dabeisein konnte, daher aber am Vortag, am 12. Januar, ein Treffen mit rund 70 ehemaligen Russlanddeportierten, dem damaligen Vorsitzenden des Landesforums Prof. Dr. Dr. res. Paul Philippi, Vorstandmitgliedern, der Leitung des Vereinigung der Russlandeportierten, dem Vorstand des Kronstädter Kreisforums hatte, der die Deportation als einen „tragischen Augenblick“ in der Geschichte dieser Minderheit bezeichnete. Auch richtete er eine Botschaft aus diesem Anlass an die Betroffenen.
Sowohl diese als auch die Ansprache von Prof. Paul Philippi können in unserer Wochenschrift, der „Karpatenrundschau“ Nr. 3 (2278) vom 19. Januar 1995 nachgelesen werden.
Ignaz Bernhard Fischer, Vorsitzender der Vereinigung der ehemaligen Russland-Deportierten, betonte einleitend zu dem Band „Tief in Russland bei Stalino“ (ADZ Verlag 2000): „Auch nach so langer Zeit steht uns die damalige Leidenszeit so lebhaft vor dem geistigen Auge, als wäre sie erst zu Ende gegangen. Solch bittere Erfahrungen lassen sich weder von Jahren noch von Jahrzehnten verdrängen.
Die Erinnerungen an die Zeit, in der wir unserer Freiheit beraubt und ohne Hoffnungsschimmer ständig dem Hunger, Krankheiten und Tod ausgesetzt waren und dabei schwere physische Arbeit leisten mussten, lasten als Alptraum auf unseren Seelen.“ Die Zahl der direkt Betroffenen hat altersbedingt stark abgenommen, aber die von diesen geschilderten Erinnerungen dürfen von ihren Kindern, Enkelkindern, der Nachwelt nie vergessen werden.