Begegnung mit und in Estland: ähnlich aber doch ganz anders

Mit dem Erzbischof Urmas Viilma (Mitte)

Ansicht aus Talinn Fotos: privat

Tallinn, Estland. Vom 20. Mai bis zum 25. Mai besuchte eine Abordnung des „ZETO“ (Zentrum für evangelische Theologie – OST) unter der Leitung von Pfarrer Dr. Stefan Cosoroaba die evangelisch-lutherische Kirche in Estland und andere kirchliche Institutionen. Mit dabei waren Pfarrer Uwe Seidner aus Wolkendorf, Osteuropakorrespondent und Bogdan Muntean, Schriftführer. 

Die evangelische Kirche im Baltikum blickt auf eine ähnliche Geschichte zurück, wie auch unsere evangelische Kirche A.B. in Rumänien. Schon im 12. Jahrhundert kamen deutsche Kaufleute aus Hansestädten in die Region am Finnischen Meerbusen. Ihnen folgten auch Missionare, die Klöster gründen sollten. Im Jahre 1199 wird Albert von Buxhövden als Bischof von Livland ernannt. Mit 500 Kreuzrittern und Gefolgsleuten macht er sich auf den Weg und gründet die Festung Riga. In Estland waren es im Jahre 1219 die Dänen, die in Reval (heute Tallinn) ihre Festung errichteten, nachdem die heidnischen Esten in einer Schlacht besiegt wurden. Ab 1230 sollte es dann der Deutsche Ritterorden sein, der sich da einen Wunsch erfüllte, der ihm in Siebenbürgen nicht erfüllt gegangen ist: der Orden erhält frei Hand von Papst und Kaiser und gründet sein Ordensreich. Über die Flüsse Nogat, Memel und Weichsel führt er seine Eroberungszüge bis ins tiefste Baltikum hinein. Es kamen weitere Siedlerschübe und die heidnischen Pruzzen und Balten wurden christianisiert. Doch in den Städten, die sich zu wichtigen Handelszentren entwickelten, die auch der Hanse beitraten, lebten die deutschen Einwohner als Kaufleute und Handwerker. Die einheimische Bevölkerung blieb über Jahrhunderte ländlich und bäuerlich. Erst im 19. Jahrhundert sollte sich das allmählich verändern. Bis dahin war noch ein weiter Weg. Durch die gute Vernetzung durch die Handelsrouten fanden die Ideen und Gedanken Martin Luthers sehr schnell auch den Weg ins Baltikum. Bereits in den 1520er Jahren predigten erste Reformatoren in Riga, Reval (Tallinn) und Dorpat (Tartu). Besonders in Riga, einer wichtigen Handelsstadt und Mitglied der Hanse, fanden die reformatorischen Ideen großen Anklang. Nach den Tagen der Reformation entwickelte sich eine lutherische Konfessionskirche deutscher Sprache, die aber nie zur Volkskirche wurde. Das Volk sprach estnische Dialekte, die erst spät als Sprache anerkannt wurde. Deutsche Gelehrte verhalfen den Esten zu einer Schriftsprache. Mit den Bolschewiki aber nahm das Kirchenwesen in den baltischen Ländern ein jähes Ende. Die Kirche wurde zerschlagen. Auch wenn die Deutschbalten nach dem ersten Weltkrieg in einem erstmalig unabhängigen Estland noch eine wichtige Stellung in der Gesellschaft einnahmen, so ändert sich das schlagartig mit dem zweiten Weltkrieg. Als Folge des Nichtangriffspaktes zwischen Hitler und Stalin wurden die Deutschbalten „Heim ins Reich“ geholt. Die baltischen Länder wurden von der Sowjetunion besetzt und die Kirche war dem sowjetischen Terror hilflos ausgeliefert. Erst der Zerfall der Sowjetunion im Jahre 1991 brachte ein neues Aufbäumen der evangelischen Kirche im Estland und im Baltikum.

Wie es nun heute um die evangelische Kirche in Estland, ihre Bildungsangebote, ihre ökumenischen Beziehungen mit der Orthodoxie und ihrem gesellschaftlichen Stand bestellt ist, galt es bei den verschiedenen Treffen mit den Kirchenvertretern zu erfahren. Geplant waren Treffen mit Thomas Andreas Pöder, Erzbischof Urmas Viilma, Rektor Ove Sanders, mit Vertretern der estnisch-orthodoxen Kirche und mit Vertretern der theologischen Fakultät in Tartu.

Die Silhouette der mittelalterlichen und sehr sehenswürdigen Altstadt des heutigen Tallinns wird von den schönen hohen Kirchtürmen der Nikolaikirche oder der Olavskirche dominiert. Auf dem Domberg thront die russisch-orthodoxe Alexander-Newski-Kathedrale, erbaut in der Zarenzeit Ende des 19. Jahrhunderts. Auf dem Domberg befindet sich auch der Sitz des evangelischen Erzbistums. Hier erfuhren wir von Erzbischof Urmas Villma Informationen aus erster Quelle. Die gotischen mittelalterlichen Kirchen, die an die Vergangenheit der reichen deutschen Kaufleute erinnern, sind längst nicht mehr wie einst vor Jahrhunderten gefüllt. Das ist auch ein Erbe der sowjetischen Vergangenheit. Von Thomas Andreas Pöder erhielten wir einen Einblick in die Gesellschaftsstruktur und Ökumene des Landes. Etwa 1,3 Millionen Menschen leben in Estland. Davon sprechen 1 Million estnisch und etwa 300.000 gehören zu Minderheiten, hauptsächlich zur russischen. Nur etwa ein Viertel der Gesellschaft bekennt sich noch zu einer christlichen Konfession. Mehr als 75% sind konfessionslos bzw. säkular. Sieben Prozent der Gesellschaft bekennt sich zur evangelisch-lutherischen Kirche und etwa 16 % sind orthodox. Diese Kirche wiederum ist in zwei orthodoxe Kirchen gespalten: die estnisch orthodoxe Kirche, die dem Patriarchat von Konstantinopel untersteht und die russisch-orthodoxe Kirche Moskauer Patriarchats. Diese bildet die Mehrheit der Orthodoxen. Wegen des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine, gibt es den politischen und gesellschaftlichen Druck, dass die russische Kirche in Estland den Kontakt zum Moskauer Patriarchat abbrechen soll. Auch gibt es seit der Unabhängigkeit der baltischen Länder eine gewisse Spaltung in der Gesellschaft. In Lettland und Estland sind die russischen Bürger staatenlos. Diese russischsprachigen Einwohner Estlands erhielten „graue Pässe“, die sie als Staatenlose oder Nichtbürger kennzeichnen. Diesen Personen wird ein Aufenthaltsrecht gewährt, aber sie haben keinen vollen Bürgerstatus und können nicht wählen. Den Bürgerstatus können sie nur durch eine Prüfung erlangen, in der Sprache, Verfassungskunde und Loyalität geprüft wird.

Als nächstes wurden wir von Erzbischof Urmas Viilma empfangen. Von ihm erfuhren wir, dass die estnisch-lutherische Kirche in dieser Form seit der russischen Revolution im Jahre 1917 existiert. Die Kirche erklärte sich frei und wandte sich vom Zarentum ab. Es entstanden Superintendenturen, die dann nach 1991 Bistümer genannt wurden, und nun von Bischöfen geleitet werden. Ein Ereignis der besonderen Art war, dass 500 Jahre nach der Reformation drei neue Bistümer gegründet wurden. Hier wurden dann natürlich die Pastoren zu Bischöfen ernannt. Erzbischof Viilma erklärte, dass die estnisch-lutherische Kirche sich an der skandinavischen Tradition orientiert und als „hochkirchlich“ versteht. Sie hat klare Richtlinien in der Rollenaufteilung zwischen Laien und Geistlichen und die Kirchen sind sehr stark um das Pastorenamt organisiert. Bischöfe treten in bunten Gewändern auf, tragen Hirtenstab und Mitra.

In Folge wurden wir von Tauri Tölpt, dem Vertreter der estnisch-orthodoxen Kirche, empfangen. Diese Kirche ist eine sehr kleine Kirche und zählt höchstens 30.000 Mitglieder, die  von 30 Pfarrern betreut werden. Im 18. Jahrhundert zur Zeit der russischen Herrschaft, hieß es, dass den Esten, die zur Orthodoxie übertreten, Grund verliehen wird. Vor allem auf Inseln, aber auch auf dem Festland kam es zu Übertritten. Doch das Versprechen wurde nie eingelöst. Heute sind die Mitglieder dieser Kirche die Nachfahren. Die Kirche selbst ist dem Patriarchat von Konstantinopel unterstellt und ihr Bischof Stephanos stammt aus Zypern. Im Gegensatz zur russisch-orthodoxen Kirche, die das kyrillische Alphabet benutzt, wird in der estnisch-orthodoxen Latein geschrieben. Sehr spannend fanden wir den Aspekt, dass diese Kirche lange Zeit keine theologische Ausbildung für ihre Pfarrer hatte. Der Kontakt zur russisch- orthodoxen Kirche besteht kaum. Der Metropolit von Tallinn wurde übrigens des Landes verwiesen, da er den russischen Narrativ verbreitete. Dafür pflegt aber die estnisch-orthodoxe Kirche Kontakte zu dem Luther-Institut in Tallin. Seit 2014 gibt ein Abkommen, so dass die angehenden orthodoxen Pfarrer die theologischen Kurse besuchen können.

Als nächstes ging es nach Tartu, einst Dorpat, wir trafen dort in der Universität Tartu Roland Karo (Leiter der Schule der Theologie und Religionswissenschaften, Systematische Theologie) und Priit Rohtmets (Stellvertretender Leiter, Kirchengeschichte). An der staatlichen Universität in Tartu studieren insgesamt 15.000 Studenten. In der Schule für Theologie und Religionswissenschaften sind 200 Studierende eingeschrieben, ein Viertel für Theologie und drei Viertel für Religionswissenschaften. 50% der Magisterstudenten haben erstaunlicherweise keine religiöse Zugehörigkeit. Die Universität in Tartu hat eine traditionsreiche deutsche Vergangenheit. Mit der Sowjetunion wurde das natürlich komplett verdrängt und mit der Unabhängigkeit im Jahre 1991 gab es vorerst kein Rückbesinnen. Erst in den letzten Jahren geschieht das allmählich und das „Deutsche“ nimmt wieder immer mehr eine wichtige Stellung ein. 

Sehr beeindruckend war für mich auch der Besuch der evangelischen Kirche von Tartu. Lange Zeit war diese Kirche eine Ruine. Bischof Ove Sanders erzählte, dass über dreißig evangelische Kirchen in Estland Ruinen sind. Das ist fast die Hälfte der historischen Pfarreien. In Tartu aber hat sich eine Schar von Gläubigen mobilisiert. Die Kirche nimmt nach und nach wieder Gestalt an, und das Gemeindeleben auch. Dozentin Tiina Erika Friedenthal zeigte uns, wie sie ihre Kinder in dieser, noch inmitten von Baugerüsten, taufen ließ. 

Mit einem Ausflug auf die Insel Ösel (Saaremaa) mit ihrer Hauptstadt Arensburg (Kuressaare) fand unsere Fahrt in den Norden einen angenehmen Ausklang. Noch ein weißer Fleck auf der Landkarte, aber mit sehr alten und interessanten Kirchenbauten aus der Deutschordenszeit. Zum Schluss fragten wir uns: welches sind nun die gemeinsamen Anknüpfungspunkte? Man kann zwar davon ausgehen, dass geschichtlich doch einiges mit unserer Situation ähnlich ist, wie zum Beispiel die deutsche Siedlungsgeschichte oder die kommunistische Vergangenheit. Aber irgendwie war es doch anders. Und auch wenn die Mitglieder der evangelischen Kirche nur noch etwas über 7% der Bevölkerung ausmachen, so versteht sie sich trotzdem als Sprachrohr einer nordisch anmutenden Gesellschaft, die das Sow-jetische schon längst abgelegt hat. Eine Reise dorthin lohnt sich allemal: nicht nur weil man Neues kennenlernt, sondern weil das Eigene plötzlich anders bewusst ist. Denn, es ist vieles ähnlich, aber doch alles anders.