Ein übergewichtiger isländischer Fischer schwimmt im eiskalten Meer um sein Leben. Sein Boot ist gekentert, seine Kameraden sind tot und er redet mit den Möwen, um nicht den Verstand zu verlieren. Ein Mädchen mit blonden Rastalocken läuft verzweifelt durch einen Zug. Der junge Mann, den sie gerade geheiratet hat, wurde von einer brutelen Bande zusammengeschlagen. Sechs Menschen sitzen auf Stühlen in einem Kreis. Jeder von ihnen hat ein fremdes Organ in sich, alle stammen von demselben Mann. Nun haben sie sich versammelt, um einen Film zu sehen, den ihr Spender gedreht hat, bevor er bei einem Unfall ums Leben gekommen ist.
Dieses sind nur drei von fast 200 Geschichten, die man bei der 12. Auflage des Internationalen Filmfestivals Transilvania (TIFF) in Klausenburg vom 31. Mai bis zum 10. Juni sehen konnte. Denn immer sind es die Geschichten, die die Menschen in die Kinosäle locken. Ob heiter oder traurig, ob leichtsinnig oder tiefgründig, ob beruhend auf wahren Begebenheiten oder komplett erfunden – dieses Jahr gab es vieles von allem, aus 53 Ländern. Nach acht Tagen in denen ich 26 Langfilme und 15 Kurzfilme, also 41 Geschichten gesehen habe, herrscht natürlich ein großes Durcheinander in meinem Kopf. Aber manche der Geschichten werde ich nicht so leicht vergessen. Bei den meisten geht es um Filme über Jugendliche und ihre Probleme. Über zwei dieser Geschichten werde ich schreiben.
Filme für ein junges Publikum
Bei TIFF sind Filme über Jugendliche immer ein beliebtes Thema. Jedes Jahr gibt es sowohl im Wettbewerb als auch in anderen Sektionen Filme, bei denen es um die erste Liebe, um Generationenkonflikt und Suche nach Identität geht. Ein viel älteres Festival, wo diese Filme sehr beliebt sind, ist die Berlinale. Seit 1978 widmet das Festival in der deutschen Hauptstadt eine Sektion speziell Kindern und Jugendlichen: „Generation“. Hier werden Entdeckungen des internationalen Gegenwartskinos auf Augenhöhe junger Menschen präsentiert. „Generation“ beteiligt Kinder und Jugendliche am filmkünstlerischen Diskurs des Festivals und ist zugleich Ort der Begegnungen über Altersgrenzen hinweg. Gespräche im Kinosaal nach den Filmen bieten dem jungen Publikum wie den Filmemachern die Möglichkeit, ihre Begeisterung zu teilen und sich mit dem Gesehenen kritisch auseinanderzusetzen. TIFF hat diesem Beispiel gefolgt: seit fünf Jahren gibt es eine rumänische Variante zu „Generation“, sie heißt „EducaTIFF“ und hat den Zweck, ein junges Filmpublikum zu formen. Es gibt bei „EducaTIFF“ nur vier oder fünf Filme pro Jahr, vielleicht müsste man in Zukunft mehr bringen.
Die Filme, über die ich schreiben werde, waren nicht in der Sektion „EducaTIFF“ zu sehen, sondern im rumänischen, bzw internationalen Wettbewerb. Der eine ist ein rumänischer Dokumentarfilm und bei dem anderen geht es über den ersten Film, der in Saudi-Arabien gedreht wurde. Beide Filme wurden von Frauen gedreht. Beide erzählen die Geschichte von jungen Mädchen und von deren Beziehung mit den mehr oder weniger anwesenden Eltern. Das Wichtigste jedoch, das die beiden Filme gemeinsam haben, sind die Bilder, die im Kopf bleiben. Lange nachdem man den Kinosaal verlassen hat.
Ein Mädchen zeichnet ein Herz an die Wand einer Baustelle
Danach schreibt es neben das Herz: Ani Sanda Mami Tati. „Wir vier zusammen, das ist die perfekte Familie“, sagt die pummelige Sanda, die 14-jährige Hauptfigur des Dokumentarfilms „Aici, ...adică acolo“. Leider ist die Familie Berindea nur zu Weihnachten und zu Ostern zusammen. Manchmal nicht mal dann. Sanda und ihre ältere Schwester Ani leben in Maramuresch und werden von ihren Großeltern aufgezogen, da die Eltern, so wie sehr viele andere Rumänen, in Spanien arbeiten. „Eurowaisen“ werden die Kinder genannt, die zu Hause zurückbleiben während die Eltern im Westen Geld verdienen.
Drei Jahre lang hat die aus Kronstadt stammende Journalistin Laura Căpăţână-Juller die zwei Schwestern in ihrem Alltag begleitet. Von Kindern sind sie zu Jugendlichen herangewachsen. Inzwischen hat die 18-jährige Ani schon einen Freund. Als er nicht zu ihrem Geburtstag kommt, sagt sie ihm am Telefon, dass solche Sachen für sie wichtig sind. Die Leute, die dir nahe sind, müssen einfach bei wichtigen Ereignissen für dich da sein. Anders geht´s nicht. Auch die Eltern sind bei wichtigen Ereignissen da. Zu Weihnachten, zu Anis Geburtstag, oder als Sanda von einem Baum fällt und ins Krankenhaus muss. Ansonsten aber sind sie weg.
Irina und Liviu Berindea sind Jahre zuvor nach Spanien umgezogen. Sie wollten Geld verdienen, um ihren großen Traum zu verwirklichen: Ein Haus mit Zimmern für jedes der Mädchen, neben dem Haus der Großeltern. Ein Haus, wo die ganze Familie glücklich zusammen leben wird. Nur dass mehr als zehn Jahre vergangen sind, seitdem die Eltern in Spanien arbeiten, und das Haus noch lange nicht fertig ist.
Es gibt mehrere Szenen, die man nach dem Film noch vor den Augen hat: Die Szene am Anfang, wo Sanda alle ihre Plüschtiere vorstellt (sie weiß genau, welches sie wann bekommen hat – die meisten wurden von den Eltern aus Spanien geschickt), die Szene wo der Vater die Notenhefte der Mädchen kontrolliert und nicht sehr besorgt scheint, dass es in letzter Zeit mit schlechten Noten nur so regnet, die Szene wo die ganze Familie auf der Coach liegt und sich laut lachend eine TV-Sendung anschaut oder die Szene wo Ani bei ihrem 18. Geburtstag mit ihrem Vater tanzt, der extra für ihre Party heim gekommen ist.
Aber das Beste an „Aici...adic² acolo“ ist, dass du als Zuschauer vom ersten Moment an mit den beiden Mädchen mitfühlst. Die Eltern kommen nach Hause und du wartest auch mit den beiden Töchtern auf den Bus. Als sich die Türen öffnen, bist du so aufgeregt, als ob es deine eigenen Eltern wären, die aus dem Bus steigen.
Am Ende sagt Sanda, sie würde sich sehr stark wünschen dass die Eltern für immer zurückkommen. Auf die Frage „Hast du ihnen gesagt, dass du dir dieses wünschst?“ antwortet sie „Nein, ich habe es ihnen nie gesagt. Ich will sie nicht mit meinen Problemen belasten“.
Ein Mädchen mit Kopftuch lackiert ihre Fußnägel türkisfarben
Das Mädchen heißt Wadjda, ist 10 Jahre alt und lebt in Saudi-Arabien, wo Nagellack bei jungen Frauen eigentlich verboten ist. Jeden Morgen, auf dem Weg zur Schule, kommt sie an einem Spielzeuggeschäft vorbei, wo ein grünes Fahrrad steht. Sie träumt davon, es zu haben. Doch abgesehen davon, dass sie kein Geld hat, ist es Mädchen in ihrem Land untersagt, Rad zu fahren. Trotzdem will Wadjda sich diesen Traum um jeden Preis erfüllen. Als ihr Plan, mit dem verbotenen Verkauf von selbstaufgenommenen Musikkasetten auf dem Schulhof zu Geld zu kommen auffliegt, bleibt ihr nur ein kleiner Hoffnungsschimmer: Sie muss unbedingt den Koran-Rezitationswettbewerb gewinnen, der mit einem hohen Preisgeld dotiert ist.
Die saudi-arabische Regisseurin Haifaa Al Masour will mit dem Film, der in einem Land gedreht wurde, wo es keine Kinosäle gibt, über die Probleme der Frauen in Saudi Arabien sprechen. Dabei zeigt sie den Alltag von Wadjda. In der strengen Mädchenschule, wo die Lehrerinnen immer den Schülerinnen einreden: „Verbergt eure Haare, eure Gesichter, versteckt euch vor den Blicken der Männer“, benimmt sich das selbstbewusste Mädchen wie eine kleine Rebellin. Nachdem sie einer älteren Kollegin zu einem Rendezvous mit einem Jungen verhilft, kommt es zum Skandal. Auf der Straße befreundet sich Wadjda mit einem gleichaltrigen Jungen, von dem sie Fahrradfahren lernt. Zu Hause kocht und singt Wadjda mit ihrer Mutter. Der Vater ist fast nie daheim. Er sucht nach einer anderen Frau, weil Wadjdas Mutter keine Kinder mehr bekommen kann und er sich unbedingt einen Sohn wünscht. In der letzten Szene des Films steht Wadjda mit ihrer Mutter nachts auf der Terrasse. Im Fernen steigen Feuerwerke. Sie stammen von der Hochzeitsfeier ihres Vaters mit der zweiten Frau. Das ist das Schicksal der Frauen in Saudi Arabien. Aber Mädchen wie Wadjda könnten etwas daran ändern.
Sowohl in „Aici,...adică acolo“ als auch in „Wadjda“ geht es, das Bild einer Gesellschaft zu zeigen. Eine Gesellschaft die das Leben von jungen Leuten stark beeinflusst. Sanda und Ani können nichts dafür, dass sie in einem Land leben, wo die Gehälter so klein sind, dass die Leute im Ausland arbeiten müssen. Wadjda kann nichts dafür, dass sie in einem Land lebt, wo die Rechte der Frauen eingeschränkt sind. Beide Filme wurden von Frauen gedreht. Beide erzählen die Geschichte von jungen Mädchen und von deren Beziehung mit den mehr oder weniger anwesenden Eltern. Das Wichtigste jedoch, das die beiden Filme gemeinsam haben, sind die Bilder, die im Kopf bleiben. Lange nachdem man den Kinosaal verlassen hat.