Wenn wir heute, ein halbes Jahrhundert seit Victor Bickerichs Tod seiner gedenken, so erhebt sich vielleicht als erstes die Frage: Wie viele Menschen können sich aufgrund eigenen Erlebens noch an ihn erinnern, als ehemalige Schüler, als Zuhörer seiner Konzerte, als Freunde, Wegbegleiter, als Bekannte? Es dürfen nicht mehr viele sein, doch diese sind sich wohl alle in einem Punkt einig, nämlich dass sie in Victor Bickerich einer faszinierenden Musikerpersönlichkeit begegnen durften, die bis heute unvergessliche Eindrücke hinterlassen hat.
Doch wie soll man den Vielen, die über Bickerich nur vom Hörensagen mehr oder weniger, oder auch gar nicht, unterrichtet sind, sein segensreiches, über vier Jahrzehnte währendes Wirken in Kronstadt (und nicht nur da) heute näherbringen? Dem nachschaffenden Künstler werden keine Lorbeerkränze um das Haupt gewunden, hieß es früher. Heute kann man, anhand von Tonaufnahmen in verschiedenen technischen Ausführungen, Kenntnis erlangen von der Aura eines jeden Interpreten. Doch Zeit und Ort des Wirkens von Victor Bickerich gewährten kaum Möglichkeiten für solche Unterfangen. Zwar kam es 1937 zu Schallplattenaufnahmen im Reichssender Stuttgart, Frankfurt am Main und im Deutschlandsender Berlin, doch fehlt von diesen heute jede Spur. Und ob es von den Bukarester Radiosendungen der 30er und 40er Jahre Aufnahmen geben könnte, ist mehr als zweifelhaft. Geblieben ist nur eine wenig brauchbare Aufnahme mit Volksliederbearbeitungen (darunter auch ein Satz von Bickerich) und die von Werner Hannak aufgenommene Aufführung des Mozart-Requiems aus dem Jahre 1957.
Diese Aufnahme wurde von Dr. Heinz Gunesch als Grundlage für einen „eindrucksvollen Dokumentarfilm“ mit Aufnahmen aus der Schwarzen Kirche (mit versteckter Kamera) verwendet. Der Film ist vor zehn Jahren im Haus des Deutschen Ostens im München gezeigt worden. Wer heute etwas über Leben und Wirken von Bickerich erfahren möchte, kann die hervorragende Monografie von Adolf Hartmut Gärtner zur Hand zu nehmen.
Das umfangreiche, fast 400 Seiten starke Buch trägt den Titel „Victor Bickerich – Kirchenmusiker und Musikpädagoge in Siebenbürgen“ und erschien 1997, zwei Jahre nach Bickerichs hundertstem Geburtstag. Es enthält alles über Bickerich und es dürfte schwerfallen, noch etwas Neues hinzuzufügen. Allerdings darf angenommen werden, dass dieses gründliche, mit viel Ehrerbietung und Sachkenntnis geschriebene Buch des heute 98-jährigen, ehemaligen Bickerich-Schülers, in Siebenbürgen nur einem kleinen Leserkreis bekannt geworden ist. Da es bisher – wie sonst bei neuen Bucherscheinungen üblich – noch zu keiner öffentlichen Präsentation dieser umfassenden Bickerich-Monografie gekommen ist, stelle ich diese kurz vor.
Der Verfasser Adolf Hartmut Gärtner, 1916 in Kronstadt geboren, war von 1929 – 1934 Schüler Bickerichs (Klavier, Orgel, Harmonielehre) und studierte danach Kirchen- und Schulmusik in Berlin. In den Kriegsjahren war er zunächst Erster Chormeister des Kronstädter Männergesangvereins sowie Direktor der Hermania. Ab 1945 finden wir ihn in München als Leiter des Paul Gerhard-Chors, als Studiendirektor und Musikreferent am Staatsinstitut für Schulpädagogik. Wie er selbst bekennt, war Bickerich ihm „in der Ausübung seines Berufes stets Vorbild gewesen“ (S.192) und sein Bickerich-Buch versteht er als „persönliches Anliegen“, als „Abtragung einer Dankesschuld“ (S.10).
An den Beginn seiner Monografie stellt Gärtner Bickerichs 1955 verfasstes Gesuch für Rentenerhöhung. Das in rumänischer Sprache abgefasste Dokument wird in deutscher Übersetzung gebracht (so hat es Bickerich wohl ursprünglich geschrieben und danach übersetzen lassen). Dieser Beginn ist durchaus gerechtfertigt, denn dem Dokument kommt der Stellenwert einer Autobiografie zu. Gärtner kommentiert diese Eingabe wie folgt: „Erschüttert nimmt man heute zur Kenntnis, wie ihn materielle Not und die damalige politische Lage dazu zwangen, seine... unbestreitbar großen Verdienste um die evangelische Kirchenmusik und das deutsche Musikleben Kronstadts, zu verschweigen und statt dessen fast ausschließlich nur die dem staatlichen System opportun erscheinenden Aktivitäten zu erwähnen“ (S. 14).
Aber das Gesuch hatte Erfolg, denn Bickerichs Pension wurde von 462 Lei auf 1000 Lei erhöht (allerdings erst nach zwei Jahren). Dies Selbstzeugnis Bickerichs, das sich im Archiv der Schwarzen Kirche befindet, ist nur eins der unzähligen Dokumente, die Gärtner in mühsamer und zäher Forschungsarbeit zusammengetragen und ausgewertet hat. Beginnend mit Konzertprogrammen aus Bickerichs Geburtsstadt, dem heutigen Lissa in Polen, bis hin zu den Jahresberichten des Kronstädter Männergesangvereins, der Kronstädter Philharmonischen Gesellschaft, des Bachchors der Schwarzen Kirche, Presseberichten, Informationen und Dokumenten aus dem Besitz von Bickerichs Familienangehörigen und zu Bekenntniszeugnissen seiner Schüler (Eckart Schlandt, Radu Lupu, Michael Radulescu, Werner Hannak, Horst Gehann u.a.) hatte Gärtner eine Fülle von Material zur Verfügung, das in eine übersichtliche Abfolge gebracht werden musste, um ein lebendiges Bild einer einmaligen Musikerpersönlichkeit entstehen zu lassen. Und dies ist Gärtner zweifellos gelungen.
Die chronologische Anordnung beginnt mit den beiden Kapiteln „Frühe Jahre“ und „Erste Ausstellung in Lissa“. Den Hauptteil bilden natürlich die beiden folgenden Kapitel „Berufung nach Kronstadt“ und „Die Zeit nach 1944“. Sie enthalten einen lückenlosen Überblick über Bickerichs Wirken, beginnend sofort nach Dienstantritt in Kronstadt (1922) mit Bach-Vorlesungen bis hin zu den letzten Aufführungen (Mozart-Requiem, 1957, Bach-Weihnachtsoratorium, 1958) und den letzten öffentlichen Musikvorträgen (Beethovens Klaviersonaten 1959). Die abschließenden hundert Seiten bringen „Berichte und Anekdoten“ sowie in einem ausführlichen „Anhang“ sämtliche der erfassbaren Konzertprogramme, Titel musikwissenschaftlicher Arbeiten Bickerichs, Titel der Nachrufe und eine Liste der verwendeten Biografie.
Gärtner meint am Schluss seines Werkes: „Dass jeder Versuch, das Wesen seiner Persönlichkeit in Worten wiederzugeben nur Stückwerk bleiben müsste, war dem Verfasser von Anfang an klar“ (S. 325). Zu den wichtigsten Charakterzügen Bickerichs zählt er „pädagogische Begabung, psychologisches Einfühlungsvermögen, Menschenkenntnis, mitreißende Begeisterungsfähigkeit und Organisationstalent“ (S.325). Er meint ferner, dass sich damit allein das Außergewöhnliche seiner Persönlichkeit nicht erklären ließe, es komme ein rational nicht fassbarer Faktor hinzu, nämlich das Charisma, „eine Gabe, die nur besonderes begnadeten Menschen zu eigen ist“ (S.325).
(Fortsetzung folgt)