Eine riesengroße Familie

ie persönlichen Highlights des Internationalen Filmfestivals in Klausenburg (TIFF23)

Die Eröffnungsgala von TIFF 23 auf dem Hauptplatz Foto: Nicu Cherciu

Die Regisseurin Isabela von Tent erhielt einen Spezialpreis der Jury für den Film „Alice on & off“. Foto: TIFF

Der 1. Juli ist in diesem Jahr ungewöhnlich heiß und etwas melancholisch. Die Straßen von Klausenburg und Hermannstadt sind leerer, die Alltagsroutine kehrt langsam zurück. Es ist der erste Tag nach den beiden größten Kulturveranstaltungen, die Rumänien zu bieten hat: TIFF (das Internationale Filmfestival „Transilvania) und FITS (das Internationale Theaterfestival in Hermannstadt). Die Festivaltage in den beiden siebenbürgischen Städten sind für Kulturliebhaber wie Weihnachten mitten im Sommer. Beide Festivals werben mit den Farben rot und weiß, und es sind auch Feste der Liebe und der Zusammengehörigkeit. Filme im Kinosaal und Theateraufführungen sind Erfahrungen, die man zusammen mit anderen macht. Dabei fühlt man sich wie ein Teil einer riesige Familie. Auch die Werbekampagnen der beiden Festivals waren ähnlich und thematisierten zwischenmenschliche Beziehungen:  während FITS, das seine 31. Auflage erreicht hat, mit dem Begriff der Freundschaft (Friendship) geworben hat, war das Thema der TIFF-Werbung in diesem Jahr ein Wortspiel, das auch auf Beziehungen hinweist: Reel-Ationship („Reel“ und „Relationship). Reels sind kurze Videos, die eine maximale Länge von 90 Sekunden haben und auf Social Media gepostet werden. Sie können verschiedene Elemente wie Musik, Text, Effekte und Filter enthalten, um den Inhalt ansprechender zu gestalten. Man kann sagen, es sind sehr kurze Geschichten in Film-Form. An denen man auch andere Leute teilhaben lässt. Denn was wäre eine Geschichte, die man niemandem erzählen kann? 

Seit 18 Jahren begleite ich TIFF als begeisterter Zuschauer – das waren tausende im Dunkel des Kinosaals verbrachte Stunden, hunderte von bewegenden Leinwandgeschichten aber auch unvergessliche Momente außerhalb des Kinos. Wie zum Beispiel die lange Warteschlange vor dem Florin Piersic-Kino um ein Ticket für den Film „4 Monate, 3 Wochen und 2 Tage“ von Cristian Mungiu zu erstehen, der gerade in Cannes gewonnen hatte. Oder die Partynächte, als das Festival noch ganz am Anfang war. Oder der sonnige Tag im Juni 2017 als ich nach einem Tag im Park  die Erleuchtung hatte, dass es auch ohne 6 Filme pro Tag geht. Oder der Corona-Sommer 2020, an dem das Festival keine Pause machte und man Filme unter freiem Himmel und mit TIFF-Schutzmaske sehen konnte. Am schönsten waren aber immer die Gespräche mit Freunden und Bekannten nach den Filmen. Und die Erfahrung, einen Film in einem vollen Saal mit Tausend anderen Leuten zu sehen, ist nach wie vor unvergleichlich. Und bietet viel mehr als ein Abend alleine vor dem Laptop. Was bedeutet aber das Thema „Familie“ und „zusammen“ heute? Es ist für das Kino unerschöpflich –  denn alles, was in der Familie passiert widerspiegelt sich auch in der Gesellschaft. Dieses Thema war es, das die meisten Filme, die ich in diesem Jahr gesehen habe, miteinander verbunden hat. 

Über die Filme, die mir nach acht TIFF-Tagen in Erinnerung geblieben sind (und die hoffentlich bald in die rumänischen Kinos kommen) aber auch über andere Erlebnisse der 23. Auflage in den nächsten Zeilen. 

Girls will be girls – der große Gewinner 
In diesem Jahr gewann (für mich sehr erstaunlich) der indische Film „Girls will be girls“ der Regisseurin Shuchi Talatis die große TIFF-Trophäe. Erstaunlich, weil es sich um eine sehr einfache Geschichte handelt: eine Coming-of-age Story, in der sowohl Mutter als auch Tochter erwachsen werden.

Zu Beginn der 12. Klasse wird die 16-jährige Mira (Preeti Panigrahi) als erstes Mädchen an ihrer Schule zur Schulsprecherin ernannt, ein Titel, den sie sich aufgrund ihrer tadellosen schulischen Leistungen verdient hat. Die prestigeträchtige Ernennung bringt es mit sich, dass sie ihre Freundinnen und Mitschülerinnen zurechtweisen muss, sei es, weil ihre Uniformen nicht den Vorschriften entsprechen, oder weil die Mädchen zu viel Zeit mit den Jungen verbracht haben. 

Eine unkonventionelle Mutter-Tochter-Beziehung
Der Debütfilm „Girls will be Girls“ der indischen Regisseurin Shuchi Talati untersucht die anhaltenden Auswirkungen  des Patriarchats, als ein Mädchen im Teenageralter zum ersten Mal ihre Sexualität erkundet.Die 16-jährige Mira besucht ein strenges Elite-Internat in einer kleinen Bergstadt im Himalaya im Norden Indiens. Sie wurde als erstes Mädchen zur Oberschülerin der Einrichtung ernannt, ein Titel, der ihr für ihre tadellosen akademischen Leistungen verliehen wurde. Die Aufgabe bringt Pflichten mit sich, zu denen es gehört, ihre Freundinnen und Mitschülerinnen zurechtzuweisen, entweder weil ihre Uniformen nicht den Vorschriften entsprechen, oder weil die Mädchen zu viel Zeit mit den Jungen verbracht haben. Als sie bei der morgendlichen Versammlung im Schulhof eine Rede hält, erwähnt sie, dass die Schüler die „uralte indische Kultur“ ehren, was den tief verwurzelten Konservatismus und die Kultur des Schweigens widerspiegelt, mit der die jungen Leute leben müssen. Doch im Internat entdeckt sie Verlangen und Romantik. Der Film handelt über Ängste, Sehnsüchte, Familie, erste Liebe, aber auch über eine unkonventionelle Mutter-Tochter- Beziehung, in der manchmal die Rollen gewechselt werden (Die Rolle von Miras Mutter, die sich oft wie eine Jugendliche benimmt, ist eine der komplexesten im Film und sehr liebenswert). Die Verwandlung der Tochter vom Mädchen zur Frau wird durch ihre Mutter gestört, die selbst nie erwachsen werden konnte. Im Film wird nicht viel geredet, aber die Regisseurin füllt diese wortlosen Räume mit präzisen Bildern und erzeugt eine atemberaubende Spannung, besonders in den Szenen, in denen der Freund von Mira die beiden zu Hause besucht. „Die Geschichte dieses Films ist sehr stark in Indien verwurzelt, aber ich habe immer gehofft, dass Menschen außerhalb dieses sehr spezifischen Raums und der Zeit, in der die Geschichte spielt, sich in ihr wiederfinden werden”, sagte die Regisseurin Shuchi Talati in einem Video, das bei der Preisverleihungs-Zeremonie im Klausenburger Nationaltheater gezeigt wurde. Und genau das will der Preis ausdrücken – eine sehr spezifische Geschichte, die gut erzählt ist, kann universell werden. Das ist einer der schönsten Paradoxe im Film.

Film und Picknick im Grafenschloss 
Nicht nur in den Kinosälen und auf den öffentlichen Plätzen wurden Filme gezeigt, sondern auch außerhalb der Stadt. Mit Kleinbussen wurden die Gäste an einem heißen Juni-Nachmittag in das Dorf R²scruci gefahren, 22 Kilometer von Klausenburg entfernt. Hier befindet sich das frisch renovierte Banffy-Schloss, dessen riesiger Garten mit See zu einem Picknick mitten in der Natur einlud. Essen konnte man von lokalen Herstellern kaufen, die ihre Stände hier eingerichtet hatten. Von Bio-Burgern und Käse-Spezialitäten über köstliche Kirschen bis hin zu Pilze-Zacusca und Wein –die Auswahl war groß und man konnte sich auf eine Decke unter einen Baum setzen und während des picknickens einem Orchester zuhören, das in der Nähe des Sees spielte. Oder das Schloss während einer Führung erkunden. 
Die Geschichte des Grafen Banffy Miklos, der bis zu Beginn des Kommunismus Besitzer mehrerer Schlösser war, ist der breiten Öffentlichkeit kaum bekannt, obwohl sich viele Kulturschaffenden bemühen, das Leben und Wirken dieser ganz besonderen Persönlichkeit darzustellen. 

Viel bekannter als Banffy ist das Schloss in Bonțida, in dem er lebte, vor allem dank des Electric Castle Festivals und der Bemühungen des Transylvania Trusts, das „Versailles Siebenbürgens“, wie es in den Medien genannt wird, wieder aufzubauen. Das Schloss in Răscruci ist weniger bekannt. Laut verschiedenen historischen Quellen existierte es bereits in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Nach der Nationalisierung des Schlosses in den späten 1960er Jahren und bis im Jahr 2007 wurde das Gebäude als Schule und Internat für Kinder mit besonderen Bedürfnissen genutzt. 

Die Geschichte des Schlosses hat die Organisatoren von TIFF inspiriert, den Film auszuwählen, den man hier gezeigt hat. Er handelte auch von Kindern. Und zwar von 669 jüdischen Kindern, deren Leben während des Zweiten Weltkriegs gerettet wurde. 

Anthony Hopkins unter dem Sternenhimmel 
Auf einem Bahnsteig im Prager Hauptbahnhof erinnert ein Denkmal an einen Akt der Menschlichkeit in Zeiten des Schreckens. Die Skulptur zeigt einen Mann mit zwei Kindern und einem Koffer. Sie würdigt einen Menschen, der kurz vor Beginn des Zweiten Weltkriegs die Ausreise überwiegend jüdischer Kinder aus der Tschechoslowakei nach Großbritannien organisierte und ihnen damit das Leben rettete. Sein Name ist Nicholas Winton. Manche nennen ihn den „britischen Oskar Schindler“. Diesem Mann, der bis 2015 gelebt hat, setzt der Film „One Life” in der Regie von James Hawes ein zweites Denkmal. Das Drehbuch basiert auf einer Biografie von Wintons Tochter Barbara über ihren Vater. In One Life wird er als über Siebzigjähriger von Anthony Hopkins und als junger Mann von Johnny Flynn gespielt. 

Als der 29-jährige Londoner Börsenmakler Nicholas Winton im Jahr 1938 die Tschechoslowakei besucht, trifft er in Prag auf Familien, die vor dem Aufstieg der Nazis in Deutschland und Österreich geflohen waren, in ärmsten Verhältnissen leben, kaum oder gar keine Unterkunft und Nahrung haben und den Einmarsch der Nationalsozialisten befürchten müssen. Dort beschließt er, sich für die Rettung jüdischer Kinder einzusetzen. Er überwindet bürokratische Hürden, sammelt Spenden und sucht Pflegefamilien für die nach England geholten Kinder. Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt, da unklar ist, wie lange die Grenzen noch offen sind. Fünfzig Jahre später, an Weihnachten im Jahr 1988, als Nicholas über Siebzig ist, findet er seine alten Unterlagen, in denen er seine Arbeit festgehalten hat, mit Fotos und Listen der Kinder, die er in Sicherheit gebracht hat. Nicholas macht sich immer noch Vorwürfe, weil er nicht mehr retten konnte. Er denkt daran, die Unterlagen einem Holocaust-Museum zu spenden. Die Papiere landen in den Händen des Produktionsteams von That’s Life!, eine von der BBC produzierte TV-Show. Nicholas wird in die Sendung eingeladen und gebeten, sich ins Publikum zu setzen, angeblich nur, um die Echtheit der Dokumente zu bestätigen. Als die Moderatorin alle Anwesenden im Publikum bittet aufzustehen, die heute ohne seine Hilfe nicht hier wären, bleibt niemand sitzen. Das ist die ergreifendste Szene des Films. Sie zusammen mit anderen über 1000 Leuten in einer sternenklaren Juni-Nacht im Garten eines Schlosses zu sehen, wirkt noch emotionaler. „Wer ein einziges Leben rettet, rettet die ganze Welt.“

Über dysfunktionale Familien und wie man merkt, dass ein Film gut ist 
Meine beiden Lieblingsfilme des diesjährigen TIFF (ein Spielfilm und ein Dokumentarfilm) handeln über dysfunktionale Familien (unerschöpfliches Thema, das immer aktuell sein wird). 

Der eine, „Sterben“ in der Regie von Matthias Glasner, wurde in der Sektion „Supernova“ gezeigt, die schon seit den Anfängen des TIFF-Festivals existiert und in der auf den bekanntesten Filmfestivals preisgekrönte Filme in Rumänien-Premiere dem Publikum vorgestellt werden. Der deutsche Film, der im Februar bei der Berlinale mit dem Silbernen Bären für das beste Drehbuch ausgezeichnet wurde, überzeugte auch das TIFF-Publikum. Nicht ein einziges Mal musste ich während des dreistündigen Familiendramas auf die Uhr schauen. Und sogar die unbequemen Stühle im Klausenburger Studentenkulturhaus hinderten mich nicht daran, den Film atemlos zu verfolgen. Die jahrelange TIFF-Erfahrung und die Tatsache, dass man neun oder zehn Tage lang die meiste Zeit im Dunklen des Kinosaals verbringt, verändern die Art und Weise, wie man Filme beurteilt. Als Festival-Anfänger hat man mehr Geduld und man bleibt meistens bis zum Ende des Films im Saal, auch wenn man sich langweilt. Ein erfahrener Festivalbesucher jedoch geht aus dem Saal, wenn ihm der Film nicht gefällt. Die Zeit ist zu kostbar, um sie zu verschwenden und manchmal kann ein Spaziergang im Park mehr bringen als eine Stunde vor der Filmleinwand, in der man an etwas anderes denkt. Man wird wählerisch. Aber dann kommen Filme wie „Sterben“. Und man taucht ein und bleibt drei Stunden lang mit der Familie Lunies. 

Lissy Lunies, Mitte 70, ist insgeheim froh darüber, dass ihr langsam dahinsiechender, dementer Mann Gerd ins Heim kommt. Doch ihre neue Freiheit währt nur kurz, denn Diabetes, Krebs, Nierenversagen und beginnende Blindheit lassen ihr selbst nicht mehr viel Zeit.

Währenddessen arbeitet ihr Sohn, der Dirigent Tom, mit seinem depressiven besten Freund Bernard an einer Komposition namens „Sterben“. Toms Ex-Freundin Liv will ihn zum Ersatzvater ihres Kindes machen. Seine Schwester Ellen beginnt eine Affäre mit einem verheirateten Zahnarzt, die beiden verbindet die Liebe zum Alkohol und zum Rausch. Aber alles im Leben hat seinen Preis. Mit dem Tod konfrontiert, begegnen die Familienmitglieder sich wieder. 

In „Sterben“ passieren viele traurige Sachen. Und der Anfang des Films ist kaum erträglich. Trotzdem sorgt eine Mischung aus schwarzem Humor und Liebe zu den Figuren dafür, dass wir durchhalten. Der Film handelt von unseren kleinen und großen Feigheiten, von den Auswirkungen von gewissen Entscheidungen auf unser Leben, von Freundschaft, von unseren Beziehungen mit anderen Menschen- sei es Familie oder Wunschfamilie. Und bei wenig-stens einer Szene fragt man sich, ob der Protagonist Tom richtig gehandelt hat und was man an seiner Stelle getan hätte. 

Noch ist das Datum nicht bekannt, an dem der Film in die rumänischen Kinos kommt, aber merken Sie sich diesen Titel auf jeden Fall. „Sterben“ ist mit Sicherheit der Film der ersten Jahreshälfte 2024. 

Alice im Niemandsland 
Bei dem rumänischen Dokumentarfilm „Alice On & Off“ in der Regie von Isabela von Tent geht es auch um Familie, aber diesmal um eine nicht gerade konventionelle. 

Die über einen Zeitraum von zehn Jahren gedrehte Geschichte handelt von der 16-jährigen Alice, die eine Beziehung mit dem 35 Jahre älteren Dorian eingeht und noch als Minderjährige Mutter von Aristo wird. Die Wege von Alice und Dorian, die beide bildende Künstler sind, trennen sich jedoch nach wenigen Jahren. 

Konfrontiert mit Angst und Isolation, sucht Alice Zuflucht und Trost in der Kunst und im Video-Chat. Zuerst reist sie einer Internetbekanntschaft ins Ausland nach, doch nachdem auch diese Beziehung scheitert, kehrt sie nach Bukarest zurück. In der Beziehung zu ihrem Sohn Aristo scheint Alice das Muster ihrer Eltern zu wiederholen. Die beiden Journalisten, für die die Karriere wichtiger war als das eigene Kind, haben sich noch vor ihrer Geburt getrennt, sie selbst wuchs bei der strengen Großmutter auf und wurde zur rebellierenden Jugendlichen. Nun ist sie selbst Mutter und kann mit dieser Rolle nicht richtig umgehen. Sie taucht zwar ab und zu sporadisch in Aristos Leben auf, doch dann verschwindet sie wieder. Bis sie eines Tages gar nicht mehr zu finden ist. 

„Ich lernte Alice im ersten Jahr der Filmschule vor zehn Jahren kennen. Anfangs war ich zögerlich, was Alices Persönlichkeit und ihren Lebensstil anging, aber eine nicht zu leugnende Neugierde zwang mich, tiefer in ihre Welt einzutauchen. Lange Zeit wusste ich nicht, worum es in diesem Film geht und was das Thema ist. Das Einzige, was ich von Anfang an wusste, war, dass ich sie wirklich respektiere und beschloss, selbst zu filmen. Das half mir, sie besser zu verstehen und ihrem Universum näher zu kommen. Allein zu filmen hat es mir auch ermöglicht, ihr näher zu kommen. Ich entdeckte, dass unser Leben eine Gemeinsamkeit hatte: Wir hatten beide eine Kindheit durchgemacht, die eher von Missbrauch als von Liebe und Mitgefühl geprägt war. Diese Erkenntnis hatte einen großen Einfluss auf meine Entwicklung, da ich Alices Wandlungsprozess in den letzten zehn Jahren genau dokumentiert habe. Die Geschichte von Alice ist ein starkes Zeugnis dafür, wie wir mit dem Erbe unserer Eltern umgehen und wie wir den Weg für eine bessere Zukunft für zukünftige Generationen ebnen“, sagte  Regisseurin Isabela von Tent  beim Publikumsgespräch.  Sie konnte die komplexe Dynamik der Beziehung zwischen Alice und Dorian und vor allem Alices verzweifelte Bemühungen, ihren eigenen Weg zu finden, aus nächster Nähe mitverfolgen – von der traumatischen Kindheit bis zur frühen Mutterschaft und den schlechten Entscheidungen, die ihren Lebensweg leider geprägt haben. Mit der Zeit wurde die Regisseurin Teil dieser dysfunktionalen Familie.

Doch auch der Zuschauer durchläuft während der 90 Minuten einen Transformationsprozess. Am Anfang verurteilen wir Dorian, den 53-jährigen Mann, der eine Beziehung mit einer 16-Jährigen eingeht. Doch während des Films stellen wir fest, dass er der menschlichste von allen ist. Er ist ein sehr guter Vater für Aristo und kümmert sich bestens um den heute 12-jährigen Jungen. Leider ist er inzwischen an Krebs erkrankt und die Situation des Jungen ist unsicher. Die Mutter, Alice, ist weiterhin verschollen. Man nimmt an, sie ist im Bukarester Drogenmilieu untergetaucht. 

Das waren die Filme, die ich von meinem 19. TIFF mitnahm. Doch TIFF ist viel mehr als nur Filme und das Erlebnis, diese zusammen mit anderen zu sehen. TIFF ist auch dann, wenn man aus einem Film weggeht, um sich eine Theateraufführung anzuschauen (und ich sah „Romeo und Julia“ des Ungarischen Staatstheaters Klausenburg gleich zwei Mal). TIFF ist auch dann, wenn man seine Freunde trifft, die man jedes Jahr auf dem Festival sieht. TIFF ist auch dann, wenn man mitten in der Nacht auf einem Gehsteig heftig über Filme diskutiert.  TIFF ist auch dann, wenn man ein ganzes Fotoalbum mit Bildern aus älteren Festivalausgaben besitzt. Und TIFF ist auch dann, wenn man sich schon die Termine der nächsten Auflage im Kalender speichert: 14. bis 23. Juni 2025.