Ich las „Drachenköpfe“ in Spanien und wähnte mich hier in sicherer Entfernung von der Macht der mythisch-fiktionalen Gestalt des transsylvanischen Sängers und Zauberers Klingsor. Noch nie hatte ich von ihm gehört. Und ich gestehe, ich fand den Gedanken befremdlich, dass die Drachenköpfe auf dem Dach seines Hauses in Kronstadt, weit weg in den Karpaten, erglühen sollten, sobald sich der Hausbesitzer in der Stadt befände.
Ich dachte kurz an die Parallele zum spanischen Königspalast, dessen Fahne bei Anwesenheit des Monarchen gehisst wird… Dann widmete ich mich meiner gewohnten Lektüre der Costa Blanca Nachrichten. Doch siehe da, ausgerechnet dort stand als Hauptthema der Woche, in großen Buchstaben: „GARGOYOLES“. Da waren sie wieder, die „Dachdrachen“, groteske Figuren aus dem Mittelalter, die uns von oben verspotten!
Auch hierzulande, solidarisch mit dem östlichen Karpatenland, verzieren sie Fassaden, sind aber mehr als nur ein architektonischer Schnickschnack. Es ging diesmal um ihre Bedeutung im Laufe der spanischen Geschichte. Sie leiten nicht nur das Wasser von Mauern ab, sondern lenken auch unsere Gedanken, denn sie verbinden uns über Zeit und Raum, vereinen Hoffnungen und Ängste. Von Oben streng bewacht, sind wir unentwegt hin- und hergerissen, schwanken zwischen der vorwitzigen Versuchung, Geheimnisse zu lüften, und der magischen Mahnung, sie zu wahren, ihnen zu wehren.
In bereits gewohnt-eleganter Manier brachte in diesem Jahr der POP Verlag Ludwigsburg das neue Buch des bekannten siebenbürgischen Autors Eginald Schlattner heraus, den Roman „Drachenköpfe“. Ungewohnt ist der kleinere Umfang des Bandes, der durch seine knapp 200 Seiten mit der bisherigen Tradition seiner überdimensionalen Romane bricht.
Doch es ist nicht nur die Form, die sich geändert hat. Vielmehr sind es die erstaunlichen Facetten eines sich aufs Neue erfindenden Schriftstellers, die sich im Inhalt offenbaren. Manch Schlattner-Leser gesteht die Überraschung angesichts der frischen Note, die diesen Roman auszeichnet.
Und das ist nicht die einzige Neuheit. Allein schon der Aufbau in Tagebuchmanier lässt einen Dialog in persönlicherem Ton mit dem Autor erwarten. Das „Gespräch“ überschreitet die Grenzen des „ich“ und „du“. Oft hat man sogar den Eindruck, dass einem die Dinge selbst passieren, die dem Autor widerfahren. Und ähnlich sind es Gefühle, die man zwischen den Zeilen spürt, als wären sie dem eigenen Herz entsprungen! Es ist ein Zeichen für hochkarätige Literatur. Nur diese besitzt die geheime Macht, die Menschen im verschwiegenen Innersten zu berühren.
Der treue Leser mag über diesen neuen Ansatz erstaunt sein, da nicht wenige Experten den betagten Schriftsteller (geb. 1933) auf die Position des bereits etablierten literarischen Chronisten eines durchwühlten Jahrhunderts hochgelobt hatten. Jedoch passt es einfach zum kreativen Wesen des Eginald Schlattner zu erweisen, wie flink sein Geist und seine Feder immer noch sein können.
Zurück zum Buch. Was ist denn so „anders“ daran? Nun, ich wage zu behaupten, dass diesmal eine noch subtilere Wortgewandtheit in Erscheinung tritt, die sich deutlich auf die lyrische Klaviatur eingespielt hat. Manche Passagen klingen schon fast wie Poesie. Um es mit den Worten des Autors zu sagen: Es geht hier um mehr als nur „sonore Mechanik der Worte“.
Der Autor selbst scheint darüber selbst verwundert zu sein und mit charmanter Reverenz verbeugt er sich vor der „Mitverursacherin“ dieses Romans, Iris Wolff, Autorin der Erzählung „Drachenhaus“, eine Erzählung, die als Stein des Anstoßes diente. Der Ort in der sich sowohl die Erzählung, wie auch der Roman abspielen, überschneidet sich: Das Drachenhaus. Manche der Ereignisse scheinen sich zu ähneln. Ja, sogar zwischen den beschriebenen Charakteren gibt es Parallelen. Und doch hat man es mit zwei verschiedenen Welten zu tun, die sich auf fast hexenhafte Weise unterscheiden.
Denn die Geschehnisse im Drachenhaus bei Iris Wolff spielen sich nach dem Ende der Diktatur ab, also nach 1990, als die Zeitläufte keinerlei politische Bedrohungen mehr beinhielten. Anders die Handlung in Drachenköpfe, angesiedelt in den sechziger Jahren Rumäniens, in der Zeit zu der die allgegenwärtige Securitate Massenverhaftungen durchführte.
Wie der Zufall will, verbrachten sowohl Eginald Schlattner, wie auch Iris Wolff eine kurze Zeit ihres Lebens in diesem verwunschenen Haus aus Kronstadt. Separat! 44 Jahre an Alter trennen sie. Beide fühlten sich gedrungen, über diesen Aufenthalt zu schreiben. Kein Wunder, denn in diesem Haus soll laut Sage auch der Zauberer Klingsor residiert haben. Er wird irgendwie als unsichtbarer „Koautor“ von beiden Literaten erwähnt.
Es ist als lägen zwischen den Mauern des „Drachenhauses“ Bezüge verknotet, die darauf warten, dass jemand sie löst. Der Gedanke, dass sich die zwei Wasserspeier in Form von Drachenköpfen, die über die Dachtraufen des Hauses hinausblicken, bestens als Zeugen und Bewacher dieses Geheimnisses anbieten, erschließt sich von selbst.
Das Erfordernis, auch Iris Wolffs Werk gelesen zu haben, um die Magie dieses Ortes zu erfahren, scheint unumstritten (im Erzählband „Wohnblockblues mit Hirtenflöte“, Verlag Klaus Wagenbach Berlin, 2018). Demjenigen, der jedoch keinen Zugriff auf ihre Erzählung hat, verhelfen auf die Spuren einer möglichen, heimlich-unheimlichen Verbindung die Zitate, die Schlattner in seinem Roman angibt.
Es scheint, als ob das ganze Geschehen in beiden Büchern von unsichtbarer Hand durch das Mitwirken des Zauberers Klingsor zustande gekommen sei. Und die Tatsache, dass sich die zwei Autoren im wahren Leben ab immer nur fast begegnet sind, verleiht dem Roman noch mehr Anziehungskraft, Spannung zwischen Eingeweiht und Unbekannt.
Zu gewärtigen sind noch zwei weitere „kleinen Romane“ - wie der Autor sie liebevoll wegen ihrer „menschlicheren“ Dimensionen nennt: Schattenspiele toter Mädchen soll bis Weihnachten erscheinen und Dotterblumen und Froschhaxen (Arbeitstitel).
Ohne Zweifel werden auch diese letzten Texte des Eginald Schlattner sein literarisches Alleinstellungsmerkmal gebührend beweisen.