Der namhafte Sozialreformer Friedrich Wilhelm Raiffeisen hat es sicherlich verdient, dass im März dieses Jahres seiner gedacht wurde, und zwar am 11. März seines 200. Geburtstages und am 30. März seines 130. Todestages. Raiffeisen wurde durch die Gründung von Spar- und Vorschussbanken als Kreditgenossenschaften, die dann nach ihm benannt wurden und auch heute noch eine weite Verbreitung aufweisen, bekannt. Er hat vor allem in Deutschland gewirkt, sein Name war aber auch in Siebenbürgen bekannt und sein Reformwerk eine Stütze für die siebenbürgisch-sächsische Wirtschaft auf dem Weg vom Mittelalter zur modernen Wirtschaft.
Raiffeisen ist als siebtes von neun Kindern 1818 im Rheinland in Hamm zur Welt gekommen. Für ein Gymnasial- oder gar Universitätsstudium reichten die Mittel der Familie nicht aus. Dass er dennoch nach acht Jahren Militärdienstzeit als Erwachsener nach-einander in den Gemeinden Weyerbusch, Flammersfeld und Heddendorf (heute Neuwied) das Amt des Bürgermeister besetzte und als Sozialreformer auch außerhalb Deutschlands bekannt wurde, zeugen für seine wirtschaftliche Kompetenz und Gespür. Als solcher war er bemüht, die Armut zu bannen und gründete Vereine zur Verteilung von Lebensmitteln und Sparkassen zur Unterstützung armer Landwirte mit Krediten. Stets ging es ihm um die Solidarität und Hilfe zur Selbsthilfe. Raiffeisens Motto lautete: „Was einer allein nicht schafft, das schaffen viele gemeinsam.“ Das waren die Genossenschaften. Der jetzige Präsident der Bundesrepublik Deutschland, Frank Walter Steinmeier, der als Schirmherr die laufenden Raiffeisen-Feierlichkeiten betreut, betonte in seiner Begründung, Raiffeisen habe ver-gleichsweise gezeigt, was das Engagement des Einzelnen und die Solidarität vieler gerade in schwieriger Zeit bewirken können. Das mache, so Steinmaier, die Idee und das Wirken Raiffeisens so modern. Im Jahr 2017 hat es die Genossenschaftsidee als erste Eintragung Deutschlands in die UNESCO-Liste des Immateriellen Kulturerbes geschafft.
Raiffeisen ist im selben Jahr wie Karl Marx geboren. Während der Begründer der kommunistischen Bewegung das Privateigentum abschaffen wollte und seine utopischen Visionen als wissenschaftliche Erkenntnisse verbreitete, verteidigte Raiffeisen das Privateigentum. Durch Kreditgenossenschaften sollte den armen Landwirten geholfen werden, ihr Eigentum zu halten. Dieser Gedanke war es, den der Siebenbürger Sachse Carl Wolff (1849-1929) aufgriff, da er darin eine Waffe zur Bekämpfung des Wuchers auf dem Lande und eine Grundlage sah für den Übergang der siebenbürgisch-sächsischen Gesellschaft von der mittelalterlich geprägten Volksgemeinschaft in die eines modernen, liberalen Staates mit bürgerlich-sozialen Rechten und Freiheiten und kapitalistischer Geldwirtschaft. Die Sachsen mussten sich nach der Aufgabe ihrer Standesprivilegien (1848/1849), der Auflösung der Munizipalautonomie des Königsbodens und den damit verbundenen Privilegien (1876) sowie der Auflösung der Zünfte (1872) und nach Verdrängung von ihren gewerblichen Absatzmärkten in Siebenbürgen und in Rumänien durch importierte billigere, westeuropäische Industrieprodukte neue soziale, wirtschaftliche und ethnische Einrichtungen aufbauen, um ihre Existenz gegen die Konkurrenz auf dem Weltmark zu behaupten und um ihr Deutschtum gegen Magyarisierung und „Verwalachung“ sächsischer Ortschaften durch rumänische Unterwanderung zu verhindern.
So entstand auch in Siebenbürgen noch zur Lebenszeit Raiff-eisens ein weitverbreitetes Genossenschaftswesen. Ihr siebenbürgisch-sächsischer Ahnherr Carl Wolff war neben dem Bischof der namhafteste Siebenbürger Sachse in den zwei Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg.
Da ich für meine heimatkundliche Forschung im Frühjahr 2017 vom Verband der Siebenbürger Sachsen Nürnberg mit der Carl Wolff-Medaille ausgezeichnet wurde, war das für mich ein Anlass, eine biographische Studie als Buch über ihn zu schreiben, das diese Tage im Schiller-Verlag erschienen ist. Das Lebenswerk von Wolff ist zum Teil deckungsgleich mit den parallel laufenden Ereignissen der Sachsengeschichte. Das widerspiegelt seine starke Verbindung mit seinem Volk, in dessen Dienst er sein Tun und Schaffen stellte.
Das ursprüngliche, exklusive Wohnrecht auf dem Königsboden ist nur teilweise bis Ende des 18. Jahrhunderts verwirklicht worden, so dass die Rumänen auch auf Sachsenboden die absolute Mehrheit erreichten. Während die evangelisch-sächsische Volkskirche, geführt von den aufeinander folgenden Bischöfen Georg Daniel Teutsch, Friedrich Müller d. Ä. und Friedrich Teutsch im 19. Jahrhundert und Anfang des 20. Jahrhunderts, zu einer nationalen Institution mit völkisch-kulturellen Aufgaben erweitert wurde, war Carl Wolff von 1890 bis 1917 der führende Volksmann auf politischem Gebiet als Leiter des Zentralausschusses der Volkspartei der Siebenbürger Sachsen und ab 1885 auf wirtschaftlichem Gebiet als Initiator und Leiter des Raiffeisenverbandes, Direktor von Spar- und Vorschusskassen und anderer Einrichtungen, 1774 Gründer und Schriftleiter des „Siebenbürgisch-Deutschen Tageblatts“. Dabei gab es natürlich eine enge Zusammenarbeit zwischen Politik, Wirtschaft und Kirche. So bekleidete C. Wolff von 1901 bis 1913 auch das Amt des Landeskirchenkurators, während die Bischöfe im politischen und völkischen Geschehen stark engagiert waren. Die Verbindung zwischen dem Kirchlichen und Weltlichen war so stark, dass im tagtäglichen Leben kaum zwischen evangelisch und sächsisch unterschieden wurde. Bischof Friedrich Teutsch, der mit Wolff aus der Kindheit befreundet war, hält in seiner Geschichte der evangelischen Kirche im Zusammenhang mit der Charakterisierung seines Freundes als Landeskirchenkurator fest, dass „das kirchliche und weltliche Leben nicht zwei verschiedene Provinzen seien, wo in der einen diese Leute, in der anderen jene arbeiten, sondern in beiden stehen die gleichen im Dienst. Das mag mitunter wie eine Verweltlichung des kirchlichen Lebens aussehen, im Grunde ist es jedoch zugleich eine Verchristlichung des Lebens.“ Teutsch weist zusätzlich darauf hin, dass Carl Wolff „jahrelang hindurch der anerkannte politische Führer der Sachsen war, Bahnbrecher und Wegweiser für die wirtschaftliche Stärkung seines Volkes, eine durchgreifende, geistvolle, weitblickende Persönlichkeit, die zum Freundeskreis des Bischof Teutsch gehörte…
Was waren die Vorschussvereine?
Carl Wolff kündete seinen Plan, Raiffeisenvereine zu gründen 1885 im „Siebenbürgisch Deutschen Tageblatt“ und dann auch als Separatdruck unter dem Titel „Sind ländliche Vorschussvereine notwendig?“ Er erklärte in seiner Schrift, wie Raiffeisengenossenschaften aus der Not helfen könnten: „In unserem Vaterlande wird den Kreditverhältnissen der Landbevölkerung seit einiger Zeit erhöhte Aufmerksamkeit gewidmet. Die unmittelbare Veranlassung hierzu ist nicht bloß die Not, welche unsere Landwirtschaft heimsucht, sondern die Erkenntnis, dass der Wucher durch das Wuchergesetz allein, welches den Wucher verbietet und bestraft, nicht bekämpft werden kann, sondern dass auch positive Einrichtungen geschaffen werden müssen, welche dem Kreditbedürfnis der Landbevölkerung zu Hilfe kommen und dasselbe aus den Händen der Wucherer befreien.“ Wolff meinte das Raiffeisen-Buch gehöre neben der Bibel in jedes Haus, vor allem auf den Tisch der Pfarrer. „Sind solche Darlehens- oder Vorschussvereine auch für unsere sächsischen Gemeinden notwendig?“, fragt Wolff in seiner Schrift. „Gewiss! Sie sind so notwendig, wie das tägliche Brot. Sie sind notwendig. Einmal um den Wucher wirksam zu bekämpfen und dann um der Landwirtschaft selber unter die Arme zu greifen.“
Mit der Gründung der ersten Raiffeisenvereine im Jahr 1885 begann der große wirtschaftliche Aufstieg Wolffs, der ihn zu einem bedeutenden Wirtschaftler auf dem Gebiete des Bankwesens der Sachsen machte. Die ersten Raiffeisenvereine wurden in den Gemeinden Großscheuern, Frauendorf, Arbegen und Reußmarkt gegründet. Ihnen folgten im nächsten Jahr Rothberg, Gierelsau, Waldhütten und Zendersch, kurz danach 1886 weitere 8 Gemeinden, die sich zu einem Verband zusammenschlossen und Carl Wolff zu ihrem Anwalt wählten.
Im Allgemeinen umfasste ein Raiffeisenverein oder eine Wolffische Genossenschaft auf dem Lande die aktiv tätigen Bauern einer Ortschaft, in der Stadt interessierte Gruppen von Handwerkern und Kaufleuten. Sie bildeten einen Spar- und Kreditverein, in den sie als Mitglieder ihre kleinen Geldersparnisse einlegten, die Mitgliedern des Vereins zu niedrigem Zins geliehen wurden. Bei Bedarf erhielten die Mitglieder günstige Kredite. Alle Mitglieder hafteten für das Geschäftsgebaren des Vereins, der Reingewinn wurde für gemeinnützige Einrichtungen zur Verfügung gestellt. Reichte das eigene Kapital des Vereins nicht aus für Kredite, so gab es eine oder mehrere Banken, die aushalfen, wobei dazu deren Eigengewinn verwendet wurde. Wolff unterstreicht: Diese Vorschussvereine sollten keineswegs auf Gewinn ausgehen, sondern auf Unterstützung Kreditbedürftiger und Kreditwürdigen. Die Vorschussvereine sollten niemanden zum Schuldenmachen verlocken. Das Darlehen sollte nur solchen Mitgliedern gegeben werden, welche das Geld zur Ordnung oder Verbesserung ihrer wirtschaftlichen Verhältnisse verwendeten. Dabei gab es natürlich eine enge Zusammenarbeit zwischen Politik, Wirtschaft und Kirche. Bei der Gründung von Raiffeisenvereinen setzte Wolff auf die Mitarbeit der Pfarrer, denn der rechte Pfarrer ist ein Bauernpfarrer, also ein Raiffeisenpfarrer, heißt es in Friedrich Teutschs Sachsengeschichte: „Gerade diese Arbeit, 1916 in 193 Gemeinden, 184 Raiffeisenvereine, 6 Kellervereine, 59 Konsumvereine, 1 Mühle, die er unter hervorragender Mitwirkung der Kirche Grösstes geleistet hat, ist ein Beweis dafür, dass die Grenzen der kirchlichen Arbeit sich gar nicht streng ziehen lassen. Die Raiffeisenarbeit ist gewiss zunächst keine kirchliche Arbeit im engen Sinn, aber was die Vereine in Erziehung zu Ordnung und Pünktlichkeit, Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit leisten, wie sie ausgehend und gipfelnd im Gedanken der Pflicht gegenseitiger Hilfe, zuletzt auch in zarten Herzen des Christentums mit einem ‘Dienet’ einander zu wecken, imstande sind. Es ist geradezu ergreifend, zu sehen, wie es der voll eingesetzten Kraft des Pfarrers in mehr als einer Gemeinde gelungen ist, mit Hilfe des Raiffeisenvereins die halb oder ganz verlorene Gemeinde, die mit dem wirtschaftlichen Niedergang auch den sittlichen Halt verloren hatte, wieder zu beleben und neues festes Christentum in die Seelen zu senken.“
Carl Wolff konnte 1919 mit dem Ergebnis der von ihm gegründeten Raiffeisenvereine hoch zufrieden sein. Er meldete: „Die Jahre 1885 bis 1919, in welchen ich als Direktor der Hermannstädter allgemeinen Sparkasse tätig war, gaben mir eine Fülle von Arbeit. Zunächst galt es, die Hermannstädter allgemeine Sparkasse, die bei meinem Amtsantritt ein kleines Lokalinstitut war, aus ihrer Stagnation emporzureissen und zu einer leistungsfähigen Kreditanstalt auszubauen, die mit Beibehaltung ihrer satzungsmäßigen Bestimmungen, dass der jährliche Reingewinn ausschließlich zur Stärkung der Reserve und für gemeinnützige Zwecke verwendet werden darf, in Stand gesetzt werde, die deutschen Belange in ganz Ungarn kräftig zu unterstützen. Es gelang, den Geschäftsbereich weit über die Mauern Hermannstadts auszudehnen. Es wurden zu billigem Zinsfluss, anfangs vom Hundertsatz von 6, später von 5 und 4,5, langfristige Hypothekendarlehen gegen halbjährige Zahlung der Zinsen und Kapitalraten nicht nur in Siebenbürgen, sondern auch in den übrigen Teilen des Königreichs Ungarn, im Banat und in der so genannten Batschka in Serbien ausgegeben.
Die Raiffeisenvereine fanden großen Anklang, vor dem Ersten Weltkrieg gab es sie in 170 und im Jahre 1940 in 187 von 227 sächsischen Gemeinden. Auf dem Lande war jede zweite sächsische Familie Mitglied der Raiffeisenkassen. Dazu sei vermerkt: Das Kreditwesen einer nationalen Minderheit kann eine nationalwirtschaftliche Aufgabe nur erfüllen, so haben Wirtschaftswissenschaftler festgestellt, wenn es gemeinnützliche Aufgaben befolgt.