Kronstädter gehen gerne ins Kino. Das bewies die letzte Umfrage, die vor zwei Jahren in der Stadt unter der Zinne durchgeführt wurde. Seit einigen Jahren gibt es sogar ein richtiges Festival, das immer mehr Filmbegeisterte in seinen Bann zieht: das Dracula-Filmfestival, das langsam zu einer internationalen Veranstaltung wächst. Die Deutsch-Französischen Filmtage gibt es seit sechs Jahren in demselben Format. Jedes Jahr an einem Frühlingswochenende werden jeweils drei deutsche und drei französische Filme gezeigt. Auch scheint die Veranstaltung ein passendes „Zuhause“ gefunden zu haben: die Patria-Kinemathek, die schon ein Stammpublikum hat.
Die neuesten Kinowerke waren es nicht, die bei der diesjährigen Auflage gezeigt wurden. Die meisten Filme stammen aus den Jahren 2012-2014 und dürften manchem Kinoliebhaber schon bekannt sein, da sie schon von Fernsehsendern wie Cinemax oder HBO ausgestrahlt wurden. Trotzdem zeichnete sich die diesjährige Veranstaltung durch eine große Themenvielfalt aus. Vom ernsten Holocaust- Drama über die leichte Familienkomödie bis hin zum Dokumentarfilm über den Cyberkrieg- es gab etwas für jeden Geschmack. Alle Filme wurden mit rumänischen Untertiteln gezeigt.
Besonders interessant waren in diesem Jahr drei Spielfilme: „38 Zeugen“ (2011, Regie Lucas Belvaux), „Phoenix“ (2014, Regie Christian Petzold) und „Die geliebten Schwestern“ (2014, Regie Dominik Graf)
Der Zuschauereffekt
Die Handlung des Eröffnungsfilms „38 Zeugen“ (38 temoins, Regie Lucas Balvaux) kann in einem einzigen Satz zusammengefasst werden: Eine junge Frau wird ermordet und 38 Menschen sehen tatenlos zu. Es handelt sich um eine Verfilmung des im Jahr 2009 erschienenen Romans „Est-ce ainsi que les femmes meurent? (Ist dies, wie Frauen sterben?)“ von Didier Decoin. Der Roman wiederum handelt von einer wahren Begebenheit, und zwar vom Mordfall „Kitty Genovese“, der 1964 im New Yorker Stadtteil Queens stattfand. Der Fall hat durch die Untätigkeit der Nachbarn Bekanntheit erlangt und regte Untersuchungen zu dem psychologischen Phänomen an, das als „Zuschauereffekt“ oder „Genovese“-Syndrom bekannt worden ist. Das 28jährige Opfer Kitty Genovese wurde in der Nähe ihrer Wohnung erstochen. Laut Zeitungsberichten haben die Nachbarn der New Yorkerin zwar die Schreie der jungen Frau gehört, aber aus Angst nicht eingegriffen. Später sollte sich herausstellen, dass die Zeitungsberichte übertrieben waren. Der Film hält sich inhaltlich eng an die tatsächlichen Geschehnisse.
Die Handlung findet in Le Havre, einer friedlichen Hafenstadt im Norden Frankreichs statt. Dem ruhigen Leben wird aber für immer ein Ende gesetzt als in einer Nacht eine junge Frau brutal in einem Hausflur erstochen wird – und keiner der Bewohner aus der Nachbarschaft will etwas in den sonst so ruhigen Straßen bemerkt haben. Im Film stehen nicht der Mord und der Täter im Vordergrund, sondern Reaktionen der Nachbarn. „38 Zeugen“ ist nicht ein Film, dessen Handlung den Zuschauer gebannt auf den Bildschirm blicken lässt. Es ist vielmehr ein Film, dessen Fragen dich tagelang nicht loslassen: Wo beginnt die Schuld? Wie hätte ich selber reagiert, wenn vor meinem Haus ein Mord stattgefunden hätte? Wie hätte meine Familie reagiert? Kann eine Beziehung an so einer Begebenheit scheitern? Ein ähnlicher Film ist der schwedische Spielfilm „Force Majeure“ (Regie: Ruben Ostlund). Hier macht eine schwedische Familie Skiurlaub in den französischen Alpen. Als eine Lawine den Berg hinabstürzt, ergreift der Familienvater rücksichtslos die Flucht, ohne seiner Frau und den Kindern zu helfen. Doch woher wissen wir, dass wir nicht genauso gehandelt hätten?
Eine schmerzliche Wiedergeburt und ein Liebesdreieck
Die Handlung des deutschen Film „Phoenix“ (Regie Christian Petzold) handelt 1945. Schwer verletzt und mit entstelltem Gesicht wird die Auschwitz-Überlebende Nelly von ihrer Freundin Lene in ihre alte Heimat Berlin gebracht. Kaum genesen von einer Gesichtsoperation macht sich Nelly auf die Suche nach ihrem nichtjüdischen Mann Johnny. Dieser erkennt sie nicht mehr. Er hält sie vielmehr für eine Person, die seiner totgeglaubten Ehefrau sehr ähnlich sieht. Johnny schlägt Nelly vor, in die Rolle seiner totgeglaubten Frau zu schlüpfen, um sich das Erbe ihrer im Holocaust ermordeten Familie zu sichern. Nelly lässt sich darauf ein und wird ihre eigene Doppelgängerin. Sie möchte wissen, ob Johnny sie je geliebt hat oder vielleicht sogar ihr Verräter war. Die junge Frau hält krampfhaft an ihrer verlorenen Identität und dem Glauben fest, dass sie durch Johnny ihr altes Leben wiedererlangen kann. Der Film ist spannend von Anfang bis Ende, jedoch ist die Handlung etwas unglaubwürdig. Man fragt sich dauernd: Wie kann ein Ehemann seine Frau nicht wiedererkennen? Ihr Gesicht mag sich verändert haben, die Stimme ist aber dieselbe geblieben. Wem es gelingt, über dieses Manko des Drehbuchs hinwegzusehen, kann den Film genießen.
Der Film „Geliebte Schwestern“ (Regie Dominik Graf) stellt dem Zuschauer keine unbequemen Fragen und zeigt ihm auch keine düsteren Seiten der Geschichte. Er transportiert ihn für fast zweieinhalb Stunden in eine andere Welt. Die Landschaften und Häuser, die Kleider und Frisuren, die Pferde und Kutschen, die Sprache, die Intrigen, die Briefe, die erfundenen Geheimschriften- alles fühlt sich weit entfernt an von dem, was wir heute leben. Das Thema ist viel zu wenigen Schülern bekannt, die die Werke Schillers studieren: der Schriftsteller liebt zwei Schwestern, Caroline von Beulwitz, die ältere, verheiratete, und Charlotte von Lengefeld, die ledige, die er dann heiratet, ohne die andere zu verlassen. Die Geschichte über Thüringen und Weimar mit ihren Kulturszenen, über die Liebe zu dritt, die Konventionen und den Aufbruch zieht den Zuschauer schon von der allerersten Minute in seinen Bann und lässt ihn nicht mehr los. Man merkt gar nicht, wie die Zeit vergeht. Manchmal sind auch solche Filme nötig, um uns den Alltag ganz vergessen zu lassen.