Ein Dorf im Wandel
In Deutschkreuz steht bald die Haferland-Kulturwoche an. Besondere Gäste sind dabei die ausgewanderten Deutschkreuzer Sachsen, die nun ihr Heimatdorf besuchen. Viel Nostalgie ist dabei mitverbunden, denn ihr Dorf ist inzwischen zu einer touristischen Sehenswürdigkeit geworden. Die neuen Pensionen beweisen das am besten, wie auch die Tatsache, dass in manche alte Häuser neue Leute eingezogen sind. Dazu gehört seit einigen Monaten auch Universitätsprofessor George Meiu. Der 38-jährige gebürtige Kronstädter hat ein altes Haus in der Oberen Gasse samt Hof und großen ehemaligen Obstgarten gekauft und ist nun voll mit den erforderlichen Sanierungsarbeiten beschäftigt, bei denen eine bekannte Architektin mit Erfahrung im Bereich Denkmalschutz ihm beratend zur Seite steht. Es ist das Haus, das vor mehr als einem Jahrhundert dem Prediger und Lehrer Georg Daniel Möckesch gehört hat und dem nun Meiu, außer der Nutzung als Privatwohnung, eine weitere Verwendung geben möchte. Er hat nämlich vor, in Deutschkreuz für seine und weitere Studenten einen Sommerkurs in Anthropologie anzubieten.
Meiu, der nach Abschluss des Honteruslyzeums (Jahrgang 2002) eine beeindruckende Laufbahn als Anthropologe vorweisen kann – er ist Univ. Prof. an der renommierten Harvard University – sieht das Dorf und seine Entwicklung mit den Augen des Experten.
Es sei faszinierend festzustellen wie in dem ehemaligen kleinen sächsischen Dorf ganz verschiedene Leute zusammentreffen. Da sind außer den sehr wenigen vor Ort noch lebenden Sachsen ihre ausgewanderten Landsleute, die hier ihre Erinnerungen an die da verbrachte Lebenszeit auffrischen und teilen. Es ist die rumänische Ortsbevölkerung: viele sind Bauern, wobei manche von ihnen und ihren Kindern nun die Möglichkeit haben, im Ausland zu arbeiten und von dort Erfahrungen und Erarbeitetes nach Hause zu bringen. Es sind Roma, wie auch anderorts am Rande der Gesellschaft platziert. Immer mehr Touristen entdecken das kleine Dorf. Hinzu kommen Zugewanderte – Leute die es sich leisten konnten, hier ein Haus zu erwerben und einen Teil des Jahres in diesem ruhigen und von Umweltverschmutzung verschont gebliebenen Ort zu verbringen. Es handle sich vorrangig um Intellektuelle, Künstler, Schauspieler – Meiu ist geneigt, sie mit der gebotenen Zurückhaltung als „Elite“ zu bezeichnen. All diese Wandlungen schlagen sich nieder, in der Art wie Arbeit und Sozialleben im Dorf ablaufen, wie gebaut wird, wie sich die Leute kleiden usw. Vieles bietet sich an, um von Studenten untersucht, dokumentiert, nachgefragt und besprochen zu werden als praktischer Teil eines Sommerkurses. Meiu, dessen sabbatisches Jahr nun endet, denkt dabei an seine zukünftigen Studenten an der Uni Basel, wo er ab 1. Juli die Professur für Ethnologie/Anthropology an der Philosophisch-Historischen Fakultät übernommen hat, aber auch an rumänische Studenten von den Unis in Klausenburg und Temeswar, die beim Übersetzen helfen, oder an Studierende aus den Vereinigten Staaten. Untergebracht werden können die Studierenden in Pensionen im Dorf und den benachbarten Ortschaften, zum Beispiel in Deutsch-Weißkirch, Meschendorf, Reps.
Ein Schüler mit einem seltenen Hobby
In der kurzen Vorstellung ihres neuen Professors auf der Webseite der Uni Basel heißt es unter anderem: „Der 38-jährige Meiu ist seit 2021 ordentlicher Professor an der Harvard University, wo er zuvor als Associate Professor und Assistant Professor tätig war. Er hat einen BA in Anthropology von der Concordia University in Montreal sowie einen MA und Ph.D. in Anthropology von der University of Chicago.“
Wie und wo hat diese steile internationale Karriere begonnen? Das Kronstädter Honteruslyzeum hat dabei auch eine Rolle gespielt. Ihr Schüler George Meiu hatte schon früh ein besonderes Interesse für Volkskunde gezeigt. Meiu hatte als Zwölfjähriger miterlebt, wie bei seinen Großeltern väterlicherseits im Dorf Vl²deni die Mitarbeiter des Kronstädter Volkskundemuseums unter Leitung von Direktorin Ligia Fulga Feldforschung betrieben. Sie befragten die Bewohner, sammelten alte Werkzeuge, fragten nach Volkstrachten nach. Das faszinierte ihn. Bei der Kronstädter Vernissage der Ausstellung über Vl²deni, wo er mit der Großmutter nicht fehlen konnte, erkannte er vieles von dem, was auch bei seinen Großeltern vorzufinden war. Es dauerte nicht lange, bis er selber in einer hinteren leeren Stube im Haus in Vl²deni seine eigene volkskundliche Sammlung einrichtete. Der Lokalsender RTT und Rodica Kronberger wollten darüber mit ihm berichten. Es wurde bei Lyzeumsdirektor Helmuth Wagner angerufen, um den Schüler Meiu für den Ortstermin in Vl²deni von den Unterrichtsstunden freizustellen. Direktor Wagner hatte nichts dagegen, wollte aber bei dieser Gelegenheit den Schüler mit so einem besonderen Hobby genauer kennenlernen. Das war gut so, denn zwei Jahre später meldete sich George bei seinem Direktor wieder: diesmal mit der Bitte, ihm ein kleines leerstehendes Zimmer im B-Gebäude, einige Treppen höher gegenüber dem Eingang zum Festsaal gelegen, zur Verfügung zu stellen, um dort eine kleine Ausstellung zur siebenbürgisch-sächsischen Volkskunst zu organisieren. Direktor Wagner zögerte keine Sekunde und sagte nur: „Mach es!“
Dieselbe Offenheit und das gleiche Vertrauen bewies auch Pfarrehefrau und Musiklehrerin Irmgard Pelger, als Meiu bei ihr um das Ausleihen von Möbeln und anderen Exponaten anfragte. Schnell wurden die notwendigen Protokolle verfasst und Frau Pelger setzte sich persönlich ein, um für Meiu auch weitere Sammlungsstücke zu vermitteln. Hinzu kamen auch Geldspenden für die Ausstellung. Auch heute vergisst Meiu nicht, wie wichtig es für ihn damals war, als Schüler bei seinem Vorhaben ernst genommen und mit viel Entgegenkommen behandelt zu werden.
Sein Interesse für Volkskunde brachte ihn bald in Verbindung mit Fachleuten, von denen er viel lernen konnte wie z.B. Constantin Catrina in Kronstadt oder Horia Bernea und Irina Nicolau vom Bukarester Museum des Rumänischen Bauer. So schien es naheliegend, dass Meiu nach dem Abschluss der Humanabteilung am Honteruslyzeum in Bukarest oder Hermannstadt Volkskunde studieren wird.
Erweiterte Horizonte
Es sollte aber anders kommen. Die Eltern entschieden sich 2002 zur gemeinsamen Auswanderung mit George und seinem Bruder Dan Tudor nach Kanada. Die Anpassung war nicht einfach. George begann 2003 sein Studium in Anthropologie an der Concordia-Universität in Montreal. Nebenbei war er Mitarbeiter bei einer Zeitung und einer „Acas²“ genannten Sendung der rumänischen Diaspora in Montreal, nahm zeitweilig einen Gelegenheitsjob bei einem Fast Food wahr, half bei der Uni-Bibliothek aus – alles um die Studiengebühren zu begleichen, damit sie nicht zu Lasten seiner Eltern gingen.
„My village in Transsylvania“ („Mein Dorf in Transsilvanien“) war der Titel, unter dem er auch in Montreal seine Vl²deni-Ausstellung zeigte, die ihre Wirkung auf seine Kollegen sowie Lehrerinnen und Lehrer nicht verfehlte. So kam der Vorschlag eines Lehrers, dessen Geschichtsvorlesungen Meiu begeistert hatten, in Ostafrika zu forschen. Das war der Ausgangspunkt für seine spätere Lizenzarbeit, der Beginn seines Interesses für anthropologische Studien in Kenia. Dafür lernte er Suaheli (die Landessprache) und Samburu, die Sprache des gleichnamigen nilotischen Volkes. Kein leichtes Unterfangen, aber die Grundvoraussetzung, um in Kontakt mit dieser Kultur zu kommen, Beziehungen aufzubauen, Vertrauen zu finden, sagt Meiu. Sein Buch zu diesen Forschungen („Ethno-erotic Economies: Sexuality, Money and Belonging in Kenya“) wurde mehrfach ausgezeichnet und geht auf die Rolle von Sexualität und Ethnizität in einem Teil von Kenia ein, wo inzwischen auch der internationale Tourismus seine Spuren hinterlässt.
Es ist ein weiter Weg vom rumänischen Dorf bis zu den Samburu-Kriegern und -Viehzüchtern in Afrika. Sein Interesse für diese Region und die teilweise Rückkehr nach Hause, was nun Deutschkreuz geworden ist, sind einige seiner Gründe, die Uni Basel für Harvard zu tauschen, wo er aber weiter als wissenschaftlicher Mitarbeiter („research associate“) geführt wird. Aber nicht nur die geographische Entfernung zählt.
Das Interesse für das Dorf, so wie George Meiu es als Hobby-Ethnograf in seiner Jugend entdeckte, war noch, auch infolge der kommunistischen Jahrzehnte, vor allem einem beschreibenden Charakter verhaftet geblieben. Das idyllische traditionelle Dorf als Symbol für nationale Werte mit einer von Nostalgie und Wehmut geprägten Projektion eher in die Vergangenheit als in Gegenwart und Zukunft ist heute in der Ethnologie und der Sozialanthropologie dem von Modernität, Globalisierung und Dynamik geprägten Dorf gewichen. Es ist ein offenes System, in dem Geschichte und Erinnerungen aber weiter-hin ihre Bedeutung finden. Erinnerung und Materialität, wobei für letzteres das Haus als Beispiel gelten kann, ist ein weiteres Thema das Meiu beschäftigt. Was alles ein Haus aus seiner Geschichte und der Geschichte seiner Bewohner Preis geben kann, sei faszinierend. Der Schweizer Uni-Professor vergleicht es mit dem Unterbewusstsein: „oft wissen wir nicht, was wir alles wissen“, wenn z.B. unter dem Mörtel Spuren der Vergangenheit auftauchen oder wenn ein geheimes Versteck in den Wänden entdeckt wird.