Vom 6. bis zum 21. Oktober waren junge Erwachsene unterwegs im Osten mit dem entfernten Ziel Karaganda. Zweck dieses Unterfangens war die Aufarbeitung der Vergangenheit unserer Großeltern, die eine Zeit von Krieg, Flucht, Vertreibung und Zwangsverschleppung mitmachen mussten.
Nach dem Zweiten Weltkrieg sind viele Mitglieder der deutschen Minderheit aus Rumänien zwangsverschleppt worden.
Es war der „Tribut“, die Wiedergutmachung, unserer Großeltern der nach Kriegsende geleistet werden musste. Ungerne wurde darüber erzählt, eher verschwiegen. Es traf nicht nur unsere Leute, sondern dieses Schicksal erlitten viele die dem System nicht „genehm“ waren. Im Spiegel der zeitgenössischen Literatur gewann dieses Thema an Aktualität und ist so wieder in das Bewusstsein der heranwachsenden Generation gerückt.
Nun ist auch die rumänische Führung seit geraumer Zeit vor das Thema gestellt, da immer mehr Forderungen auf Schadensersatz für die durchgemachte Zeit eintreffen. Die Anträge von noch Lebenden oder deren Nachfahren häufen sich auf den Tischen des Bukarester Zivilgerichtes. Bislang ist die Frage der Entschädigung für politische Repressalien offen geblieben.
Die Zielorte unserer Reise waren: das Donezk-Becken, Wolgograd, einst Stalingrad, Astana, die Hauptstadt Kasachstans und das Karaganda Gebiet.
Wir wollten uns aber nicht nur mit der beladenen Vergangenheit auseinandersetzen, sondern uns auch mit der deutschen Minderheit im Osten treffen und die Frage nach deren Zukunft stellen. Auch heute noch lebt eine deutsche evangelische Minderheit im Osten. Die Begegnung und das Kennenlernen dieser Menschen waren uns wichtig.
Über Odessa kamen wir ins Donezk-Becken. Hier besuchten wir die Orte Makeewka und Jenakiewa, wo einst die Arbeitslager standen. Hier waren die meisten unserer Landsleute interniert. Die Erinnerungen an die Erzählungen unserer Großeltern wurden wach, auch wenn heute nicht mehr viel an die Zeit von damals erinnert. Wir suchten die Kohlebergwerke auf, die heute stillgelegt sind, und „Zavod 6“, heute wie damals die Naphthalinfabrik von Jenakiewa.
Allein ein Gedenkstein ohne Tafel, sie muss wohl entwendet worden sein, erinnert an die vergangen Zeiten der Repressalien, in denen Menschen Sklaven waren und hungern mussten, für Taten, für die sie selber nicht einmal zuständig waren. In Makeewka gibt es auch heute eine evangelische Gemeinde. Hier feierten wir den Sonntagsgottesdienst und ich durfte die Predigt halten.
Unser nächstes Ziel war Wolgograd, das wir noch am selben Sonntagabend erreichten. Die moderne Stadt Wolgograd erstreckt sich 80 Kilometer entlang der Wolga. Hier kamen wir bei der evangelischen „Sarepta-Gemeinde“ unter. Diese Gemeinde wurde 1765 von Herrnhutern gegründet, die der Einladung Katharina der Großen folgten und sich in Russland ansiedelten.
Der Probst des Kirchspiels Oleg Stuhlberg, der selbst aus Usbekistan wieder zurückgekehrt ist, erzählte uns, dass die Menschen dieser Gemeinde noch zu Kriegsanfang nach Zentralasien deportiert worden sind. Als die deutschen Truppen Stalingrad einnahmen, gab es fast keine Wolgadeutschen mehr in der Gegend. Heute aber gibt es wieder eine Gemeinde.
Es ist eine gemischte Gemeinde. Unmittelbar von der Gemeinde entfernt gibt es ein Denkmal für Kriegshelden. Hier erlebten wir, wie ein verstorbener russischer Veteran, im Alter von 92 Jahren, aufgebahrt wurde und zu dessen Ehre Lobreden gehalten wurden. Unter anderem kämpfte er in Stalingrad, in Kiew und in Berlin. Einen orthodoxen Priester konnten wir bei der Feierlichkeit nicht entdecken, also ein guter Kommunist.
Vom Gedenken an den russischen Veteranen ging es zur Gedenkstätte der gefallen deutschen Soldaten. Der Friedhof des Volksbundes für Kriegsgräberfürsorge „Rossoschka“ liegt weit außerhalb von Wolgograd, mitten in der russischen Steppe. Das Bild, das sich uns hier auftat war einerseits ein beeindruckendes, aber andererseits ein erdrückendes.
Beeindruckend war das Denkmal, das der Volksbund für Kriegsgräberfürsorge inmitten der russischen Steppe errichtet hat. Erdrückend waren all die Namen der Gefallenen. Die Jüngsten waren nicht älter als 19 Jahre alt. Über hunderttausend Namen von Gefallenen können auf diesem Friedhof gelesen werden. Um die fünfzig tausend Gefallene wurden hierher umgebettet und fanden hier ihre letzte Ruhe. Die restlichen Namen sind auf Quadern, die in der Steppenlandschaft aufgestellt wurden, eingemeißelt. Die Namensträger wurden nie gefunden und manche gelten auch heute noch als vermisst. Wir hielten an dieser Stätte, ein Mahnmal des Krieges, eine Andacht im Zeichen der Versöhnung über den Gräbern.
Unsere Reise führte uns weiter über Astrachan im Wolgadelta nach Kasachstan. Schon kurz nach der Grenze begegneten uns auf der noch befestigten Straße die ersten Kamele. Kasachstan ist ein Land der Kontraste. Das bemerkten wir spätestens auf dem Inlandflug von Atyrau, am Kaspischen Meer, nach Astana, der Hauptstadt Kasachstans.
Als wir noch in Westkasachstan verweilten, tat sich uns ein Bild von Armut mit Lehmhütten und Kamelen auf. In Astana protzte der Reichtum eines Staates, der jedes Jahr eine Steigerung von 10 Prozent des Bruttoinlandproduktes verzeichnet. Von einer solchen Steigerung kann so manch europäischer Staat nur träumen. Und doch wird der Wohlstand des Landes in den Sand gesetzt, im wahrsten Sinne des Wortes.
Astana ist eine Stadt, die regelrecht vom Diktator Nursultan Nasarbaew aus dem Boden gestampft wurde. Monumentalbauten und Wolkenkratzer beeindrucken gleicherweise. Nur, wo bleiben die Menschen? Da hat jemand die Rechnung ohne den Wirt gemacht. In der neuen modernen Stadt Astana befindet sich auch die rumänische Botschaft, wo wir zu Gast sein durften. Hier erfuhren wir einiges über die rumänische Minderheit in Kasachstan und die rumänischen wirtschaftlichen Bestrebungen.
Als nächstes trafen wir den Bischof der ELKRK (Evangelisch-Lutherische Kirche in der Republik Kasachstan) Juri Nowgorodow. Seiner Aufsicht obliegen über 50 Gemeinden, in denen zehn Pastoren ihren Dienst leisten. Die größten Gemeinden sind: Astana, Alma Ata, Kostanay, Pawlodar und Kotschetau. Das ist ein Gebiet, das unheimlich viele Kilometer umfasst.
Von der einen Stadt bis zur anderen kann man mit Entfernungen rechnen, wie von Hermannstadt nach München. Der Bischof besucht die Gemeinden per Auto; er muss immer damit rechnen, dass er tagelang unterwegs sein wird.
Bischof Nowgorodow erzählte uns über die aktuelle Situation der evangelischen Kirche in Kasachstan, einem Land, das zu 70 Prozent islamisch ist. (Bemerkt sei hier, dass es sich um einen säkularen Islam handelt.) Kopfzerbrechen bereitet ihm das neue Religionsgesetz in Kasachstan. Laut dieses Gesetzes sollen die bestehenden (christlichen) Gemeinden nur bei Befolgung strenger Auflagen und einschneidender Einschränkungen geduldet werden.
Eine weitere Hürde, die die evangelische Kirche in Kasachstan überwinden muss. Dabei wurde sie noch zu sowjetischen Zeiten wieder genehmigt. Der damalige Pastor Eugen Bachmann hat es geschafft, schon 1956 diese Gemeinde wieder ins Leben zu rufen.
In dieser Gemeinde feierten wir dann auch einen gemeinsamen Gottesdienst. Dschanibeg versah den liturgischen Dienst, ein junger Pastor, der eigentlich aus dem islamischen Umfeld kommt. Seine Familie ist islamisch, aber er hat sich zum Christentum bekehrt. Er hat in Nowosaratowka bei Sankt Petersburg das evangelische theologische Seminar besucht und dient jetzt in der Gemeinde Astana als Pastor. Er hat schon über die Theologische Fakultät in Herrmannstadt gehört, und würde da gerne einen deutschen Sprachkurs besuchen.
Die Gottesdienstgemeinschaft ist gemischt. In Astana wird der Gottesdienst nur noch russisch abgehalten. Ältere Damen erzählten uns aber auf Deutsch, wie sie hierher gelangt sind. In ihrer Kindheit lebten sie an der Wolga. Dann kam der Krieg. Zuerst kamen sie mit der Wehrmacht nach Westen. Dann wurden sie von den Russen wieder eingeholt und nach Sibirien verschleppt. Aus Omsk kamen sie dann freiwillig nach Kasachstan. Vor dem Gottesdienst singen sie noch ihre vertrauten Kirchenlieder.
Von Astana aus ging es dann mit dem Reisebus weiter ins Karagandagebiet. Das Gebiet um Karaganda ist sehr reich an Kohle. Hier standen einst die meisten sowjetischen Gulags, wo Zehntausende eingesperrt waren. Eine Folge davon ist, dass heute im Karagandagebiet über 150 Minderheiten leben.
Hier gibt es auch eine rumänische Minderheit und diese Menschen wollten wir treffen. Als Erstes aber besuchten wir gemeinsam mit dem Präsidenten des rumänischen Kulturvereins „Dacia“, Nicolae Plushkis, die Gedenkstätte „Spassk“. Sie wurde ebenfalls vom Volksbund für Kriegsgräberfürsorge errichtet.
(Schluss folgt)