Heiligabend 1944. Wir, meine Eltern, meine Schwester und die Großmutter kamen aus der Kirche von Bartholmä, wo die Vesper mit Bescherung der Kinder stattgefunden hatte und gingen, wenigstens wir Kinder, erwartungsvoll nach Hause in der Vorfreude auf die Geschenke, die wir unter dem Weihnachtsbaum erwarteten. Bei den Erwachsenen war die Stimmung gedrückt, die Zukunft stand dunkel vor uns allen. Die Gerüchteküche kochte über. Da war von Ausweisung, von Umsiedlung, von Deportation die Rede, aber niemand wusste etwas Genaues, nur die Furcht wuchs immer mehr. Die Hoffnung auf eine deutsche Gegenoffensive, die uns befreien sollte, war längst einer tiefen Resignation gewichen.
Zu Hause stellte meine Schwester fest, dass ich mein Päckchen nicht bei mir hatte. Auf die Fragen der Erwachsenen sagte ich, ich habe es absichtlich nicht genommen, denn es wären viele Kinder bedürftiger als ich.
Dann fand die Bescherung statt: Erna bekam eine Puppe, die sie sich schon lange gewünscht hatte, ich erhielt eine große Ergänzung zu meinem Metallbaukasten. Wir waren froh und zufrieden, aber im Gegensatz zu dem Weihnachtsfest vor einem Jahr, kam keine frohe Stimmung auf.
Vor allem die Sorge um die nächste Zukunft, aber auch die Sorge um die bei der Wehrmacht dienenden Familienmitglieder, von denen man seit über 5 Monaten keine Nachricht mehr erhalten hatte, sorgte für trübe Stimmung. Es gab keine deutsche Zeitung mehr und die Radioapparate waren beschlagnahmt worden, so dass man auf das angewiesen war, was die rumänische Mass-media verbreitete und das erschien den meisten von uns eher unglaubwürdig.
Am Nachmittag des 1. Weihnachtstages machten wir den traditionellen Familienbesuch bei Sinitante, bei denen sich Vater und Sohn zu der Zeit des Frontenwechsels Rumäniens auf dem Fliegerhorst Boboc bei Buz²u befanden und von denen es seither keine Nachricht mehr gegeben hatte.
Die restlichen Tage spielten wir mit Edda und Dorchen, das heißt mehr Erna, denn ich war mit dem Baukasten voll ausgelastet. Hier sei noch bemerkt, dass bei den Großeltern von Edda und Dorchen in Rosenau zwei deutsche Offiziere versteckt lebten, die in späteren Jahren nach Hause gelangten. Der eine von ihnen war der nachmalige Kardinal Franz König, der als es möglich wurde, seinen Rettern, so lange sie lebten monatlich 100 US$ zukommen ließ.
Der Jahreswechsel war auch kein Anlass zur Freude, die Ungewissheit, was morgen geschehen würde, wuchs immer mehr, bis dann am 11.01.1945 die Bombe platzte. Die Deportation der arbeitsfähigen Deutschen aus Rumänien war Realität geworden. Damit begann ein neues Kapitel, auch für unsere Familie.
Am Vorabend sagte unser Nachbar, der in der Seewaldmühle arbeitete, er habe auf dem Heimweg aus der Spätschicht an verschiedenen Stellen, Fuhrwerke mit Polizei und rumänischen und russischen Soldaten gesehen, was bedeuten würde, dass nun etwas Entscheidendes bevorstehe. Es wurde beraten, ob man abwarten oder das im Keller vorbereitete Versteck aufsuchen solle. Es blieb bei dem Abwarten.
Morgens 5 Uhr wurden wir von herrischem Klopfen an der Tür geweckt. Ein Polizist, ein russischer und ein rumänischer Soldat mit aufgepflanztem Bajonett, standen vor der Tür und verlangten, dass innerhalb einer halben Stunde, die Eltern mit den in einer Liste aufgeführten Sachen bereit sein müssten.
Dann kam der Abschied.
Während des Vormittags kam das ganze Ausmaß der Aktion zum Vorschein. Kein Haus in der Nachbarschaft war verschont geblieben, aus vielen Familien waren zwei und auch drei Mitglieder mitgenommen worden.
Etwas später erfuhren wir, dass die Ausgehobenen sich in dem Kulturhaus der rumänischen Kirche in der rumänischen Kirchengasse befänden und man sie noch besuchen könne. Ich ging hin und konnte wirklich mit den Eltern sprechen und ihnen noch einige Dinge von zu Hause hinbringen. Das war für fast vier Jahre das letzte Mal, dass wir uns sahen. Am Nachmittag wurden sie dann auf den Bahnhof gebracht, da waren sie für mich nicht mehr erreichbar.
Beeindruckt hat mich immer, wenn die Eltern von dieser Zeit im Donbass erzählten, dass sie immer die Menschlichkeit der dortigen Bevölkerung hervorhoben, die, trotzdem die Front zwei mal über sie hinweggerollt war, nach guter alter russischer Tradition, den Gefangenen nach Kräften halfen und oft das Wenige, das sie hatten, mit ihnen teilten. Und noch etwas: In fast jedem Haus, in das meine Mutter dank ihrer Nähkünste kam, gab es in der guten Stube eine Ecke mit einer Ikone und einem ewigen Licht.
Wir Heutigen sollten nicht vergessen, wie sich die damaligen Alliierten zu dieser Aktion stellten. Die Amerikaner distanzierten sich davon, ohne aber zu protestieren, während Churchill die Aktion in einer Note an das britische Außenministerium expressis verbis gut hieß. Es war der selbe Churchill, der in Nürnberg die Verwendung von Zwangsarbeitern als Verbrechen gegen die Menschheit verurteilte.
Leider kamen für die meisten der Überlebenden alle Wiedergutmachungen, die nach 1989 möglich wurden, zu spät. Es gibt nur noch sehr wenige, die heute von ihrem Leidensweg erzählen können, bald werden sie ganz verschwunden sein. Deshalb ist es notwendig, die Erinnerung an das viele Unrecht, das damals und später in der Zeit des glorreichen Sozialismus geschah, auch bei den Jüngern wach zu halten.