Aus Anlass des sechzigjährigen Jubiläums der Temeswarer Germanistik fand vom 20. bis 22. Oktober 2016 in der Stadt an der Bega ein großer internationaler Germanistikkongress statt, der Literaturwissenschaftler und Linguisten, Deutschlehrer und Kulturwissenschaftler sowie Sprachdidaktiker und Übersetzungswissenschaftler aus zahlreichen Ländern zu intensiven Fachgesprächen und fruchtbaren wissenschaftlichen Diskussionen zusammenführte. Das sechzig Seiten umfassende Programmheft des Jubiläumskongresses, das sich zur Hälfte aus Kurzbiografien der über 120 Teilnehmerinnen und Teilnehmer zusammensetzt, macht als solches bereits deutlich, dass schon die bloße Nennung der Namen aller am Kongress beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler den Rahmen jedweder Kurzberichterstattung sprengen würde. Die folgenden schlaglichtartigen Bemerkungen können deshalb nur einzelne ausgewählte Aspekte dieser germanistischen Großveranstaltung beleuchten.
Bereichert wurde der von zahlreichen Institutionen geförderte Jubiläumskongress durch ein vielfältiges Rahmenprogramm (Stadtrundgang, Domkonzert, Eröffnungsempfang im Adam-Müller-Guttenbrunn-Haus, Dichterlesung, Aufführung im Deutschen Staatstheater Temeswar) sowie durch eine Ausstellung zur Geschichte und Gegenwart der Temeswarer Germanistik im Foyer der Universität. Eine der dort aufgestellten Vitrinen beeindruckte besonders. Sie präsentierte die Abschlussarbeiten berühmter Absolventen der Temeswarer Germanistik: der Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller, des Schriftstellers Richard Wagner sowie dreier Dichter (Johann Lippet, William Totok und Balthasar Waitz), die gemeinsam auch die literarische Lesung am Abend des 21. Oktober an der West-Universität gestalteten.
Eröffnet wurde der Jubiläumskongress durch zahlreiche Ansprachen und Grußworte von Vertretern der West-Universität, des Deutschen Konsulats in Temeswar, des rumänischen Parlaments, des Forschungszentrums Deutsch in Mittel-, Ost und Südosteuropa der Universität Regensburg, der Internationalen Rilke-Gesellschaft, der Gesellschaft der Germanisten Rumäniens und zahlreicher anderer Institutionen und Organisationen. Verlesen wurde nicht zuletzt auch ein Grußwort der Präsidentin des bayerischen Landtages. Die Temeswarer Literaturwissenschaftlerin Roxana Nubert, die nicht nur den Fachbereich Germanistik an der West-Universität jahrzehntelang geleitet und entscheidend geprägt hat, sondern auch den Jubiläumskongress gemeinsam mit ihrem Organisationsteam exzellent vorbereitete, wurde in diesen Begrüßungsansprachen als „Seele der Temeswarer Germanistik“ und als deren „graue Eminenz“ gewürdigt.
Besonders geehrt wurde auch ein weiteres Mitglied des Temeswarer Germanistik-Lehrstuhls: der 2013 verstorbene Linguist und Dialektologe Peter Kottler, dessen Gedenken nicht nur ein Plenarvortrag von Hermann Scheuringer (Regensburg) gewidmet war, sondern außerdem eine ganze Kongresssektion zu deutschen Regionalsprachen und zur Namensforschung. Weitere Plenarvorträge des Kongresses befassten sich mit der Geschichte der Temeswarer Germanistik (Roxana Nubert, Temeswar), mit dem Österreichischen in der österreichischen Literatur (Konstanze Fliedl, Wien), mit in Karlsburg/Alba Iulia gefundenen mittelalterlichen Handschriften (Cora Dietl, Gießen), mit Tempus-Fragen (Mathilde Hennig, Gießen) und mit Fragen der Zumutbarkeit bestimmter literarischer Werke, etwa Frank Wedekinds Kindertragödie „Frühlings Erwachen“, im Schulunterricht (Sabine Anselm, München).
Insgesamt zehn Sektionen des Kongresses boten ein breites Spektrum und eine reiche Palette germanistischer Themen. Eine von den Temeswarerinnen Roxana Nubert und Grazziella Predoiu geleitete Sektion befasste sich mit deutschsprachiger Literatur im rumänischen Kulturraum, eine andere, von Cora Dietl (Gießen) geleitete, mit der Aktualität der Mediävistik, eine weitere, von Beate Petra Kory und Gabriela [andor (beide Temeswar) geleitete, mit in Literatur und Film dargestellten Grenzerfahrungen im Hinblick auf Migrationsphänomene. Eine vom Österrei-chischen Kulturforum Bukarest betreute Sektion beschäftigte sich mit Tradition und Moderne in der österreichischen Literatur seit dem 19. Jahrhundert, eine von Marianne Marki und Karla Lup{an (beide Temeswar) geleitete linguistische Sektion mit Sprache unter kulturellen, kontrastiven, medialen und translatologischen Gesichtspunkten.
Eine von den Münchener Hochschullehrerinnen Sabine Anselm und Margit Riedel geleitete Sektion des Kongresses befasste sich mit interkultureller Germanistik und mit der Didaktik des Deutschen als Fremd-, Mutter- und Zweitsprache, eine weitere, vom Goethe-Institut Bukarest betreute Sektion, die als Seminar für Deutschlehrerinnen und -lehrer gestaltet war, mit Literaturbearbeitung im Unterricht des Deutschen als Fremdsprache. Eine weitere Sektion bot ein Forum für den wissenschaftlichen Nachwuchs: Studierende und Doktoranden der Germanistik konnten sich unter der Leitung von Gabriela [andor und Maria Stâng˛ (beide Temeswar) über wissenschaftliche und methodische Fragen austauschen. Schließlich befasste sich eine vom Institut für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas an der Ludwig-Maximilians-Universität München betreute und von Enikö Dácz (München) und Christina Rossi (Augsburg) geleitete Sektion mit dem Śuvre des 1952 im rumänischen Banat geborenen und 1987 in die Bundesrepublik Deutschland ausgewanderten deutschen Schriftstellers Richard Wagner.
Letztgenannte Sektion über Richard Wagner war deshalb besonders interessant, weil sie das Gesamtwerk eines einzelnen zeitgenössischen Schriftstellers ins Zentrum stellte und so gezielte Fragen, fokussierte Zugänge, konturierte Problemstellungen und konzentrierte Diskussionen zu zahlreichen Aspekten des lyrischen, erzählerischen und essayistischen Werkes dieses wichtigen deutschen Gegenwartsschriftstellers ermöglichte. Maria Irod (Bukarest) befasste sich aus diskursanalytischer Perspektive mit den Essays von Richard Wagner zu Rumänien, Deutschland und Europa und Ágnes Simon-Szabó mit Wagners im Jahre 2014 erschienenen kulturgeschichtlichen Opus „Habsburg. Bibliothek einer verlorenen Welt“. Drei Beiträge stellten ausgewählte Romane Richard Wagners in den Mittelpunkt: Georgiana Minea (Temeswar) sprach über das Bild der Großstadt in Wagners Romanen „Die Muren von Wien“ und „Miss Bukarest“, Beate Petra Kory (Temeswar) über Vergangenheitsflucht und Identitätsproblematik in „Miss Bukarest“ und Christina Rossi (Augsburg/München) über Verfremdungsstrategien in den Wagnerschen Romanen „Lisas geheimes Buch“, „Das reiche Mädchen“ und „Miss Bukarest“. Christina Rossi gewährte den Teilnehmerinnen und Teilnehmern dieser Sektion außerdem Einblick in das Archiv wie den Vorlass Richard Wagners und Stefan Sienerth (Pfaffenhofen) sprach über die Korrespondenz Richard Wagners in den Jahren des Umbruchs 1987 bis 1992.
So wie drei der bisher genannten Vorträge dieser Sektion einen pluriperspektivischen Blick auf ein einzelnes erzählerisches Werk, den Roman „Miss Bukarest“, ermöglichten, so boten drei weitere Vorträge dieser Sektion die einmalige Gelegenheit, den im vergangenen Jahr erschienenen und aus vier Teilen bestehenden Prosatext Richard Wagners „Herr Parkinson“ ausführlich zu diskutieren. Ioana Crăciun-Fischer (Bukarest) sprach über Krankheit als Spracherfahrung, Brigid Haines (Swansea) über Krankheits-Texte im internationalen Vergleich und Walther Engel (Düsseldorf) über vielschichtige inhaltliche Substanz und narrative Originalität in „Herr Parkinson“, wobei ihm eine überraschende Deutung der Überschrift des vierten Teils dieses Prosatextes – „Im schwarzen Quadrat“ – gelang, indem er diese zum Ölgemälde „Schwarzes Quadrat“ (1915) des russischen Avantgarde-Künstlers und Begründers des Suprematismus Kasimir Malewitsch in Beziehung setzte. Die Tatsache, dass der Schriftsteller Richard Wagner selbst schwer an der Parkinson-Krankheit leidet, verlieh den wissenschaftlichen Diskussionen eine existenzielle Tiefe und führte den intrinsischen Zusammenhang von Literatur und Leben speziell in dieser hervorragend gelungenen Sektion innerhalb eines insgesamt ebenso gelungenen Germanistikkongresses exemplarisch vor Augen.