ADZ-Reihe „Wertvolle Jugendbücher“: Die Wahrheit, so zart, so brutal

„Echt“, Christoph Scheuring, Magellan Verlag, ausgeliehen in der Bibliothek des Goethe-Instituts Bukarest, Calea Dorobanți 32/Pavilion, www.goethe.de/bukarest


Ein Foto kann einen magischen Augenblick immortalisieren. Einen innigen Abschied zum Beispiel. Nichts ist so intensiv wie ein Abschied, findet der sechzehnjährige Albert und fotografiert deshalb täglich Umarmungen und Tränen auf dem Bahnhof. Anders als ein Wiedersehen, wo man eine Rolle spielt, die der andere oder man selbst erwartet – Blumenstrauß, Girlanden, Willkommensschild – sind Abschiede immer authentisch. Eine Art Essenz, auf die sich eine Beziehung in einem solchen Moment reduziert. Meint Albert und treibt sich täglich auf dem Bahnhof herum. Knipst ungehemmt, niemand sieht ihn. Ist praktisch unsichtbar. Was er tut, findet er nicht unmoralisch, nicht einmal voyeuristisch, denn die Menschen, die er ablichtet, interessieren ihn nicht. Nur der magische Gefühlsmoment.

Doch Unauffälligkeit kann auch verdächtig machen. Einmal wird Albert verhaftet. Wer sind deine Komplizen, insistiert der Polizist. Er glaubt, er sei Späher eines Taschendieb-Netzwerks  – warum sonst tippt er nach jedem Foto etwas in sein Handy? Die Nachricht an seine Komplizen? Tatsächlich dokumentiert Albert jedes Foto in seiner Datenbank. Sortiert sie in verschiedene Ordner. Nur wenige schaffen es in seinen Top-Ordner „Perfekt“. Meist löscht er sie auch dort nach kurzer Zeit wieder raus. Kaum etwas scheint ihm perfekt – bis er ein Foto von einem Mädchen schießt, viel zu dünn angezogen, eine Rose in der Hand, träumerisch liegt ihr Gesicht an der Schulter eines Mannes. Länger als alle anderen behielt er es im Perfekt-Ordner.

Dann begegnet Albert Kati. Ein Zug trennt die Bänke, auf denen sie sich gegenüber sitzen. Als er wegfährt, treffen sich ihre Augen. Auf einmal sitzt sie neben ihm…

Kati gehört nicht zu den Unsichtbaren, die sonst noch so am Bahnhof abhängen. Und doch kann man sie nicht fassen, nicht festhalten, sagt Drogenjunkie Sascha, der es ja wissen muss, angeblich war er mal mit ihr zusammen. Angeblich hat er sie mal eingesperrt, zu ihrem Schutz, doch sowas geht nicht mit Kati, sagt er. Kati mit den grünen Augen, der  nachlässigen Kleidung, den Schwielenhänden. Sie fasziniert Albert mehr und mehr. Ob sie Drogen nimmt? Sascha würde sie da nie hineinziehen, schwört er Stein auf Bein. Wenn du weißt, dass du dich selbst zerstörst, dass du keine Chance mehr hast, dann willst du doch wenigstens deine Lieben davor schützen. Sagt Sascha. Und bittet Albert um einen seltsamen Gefallen: Er soll seine Drogenjunkies in Bildern festhalten, für die Zeit, in der sie einmal nicht mehr sind…

Als Albert Kati seine Bildersammlung zeigt, erstarrt sie vor dem Anblick des Mädchens mit der Rose: Das Bild sei eine einzige Lüge, presst sie schockiert hervor! Das genaue Gegenteil von dem, was Albert darin sehen wollte. Gemeinsam beschließen sie, die Wahrheit zu ergründen und die beiden jungen Leute zu finden.

Auf der Suche zeigt Albert das Foto herum: Wer kennt diesen Mann, dieses Mädchen? Stochern im Heuhafen nach der Nadel. Statt- dessen wird er als Fototalent entdeckt, eine Ausstellung im Kubus im Bahnhof ist ihm sicher – doch worüber? Über jene, die sonst niemand sehen will:  die Junkies und Obdachlosen, die Saschas und Katis dieser Zeit...

Als Sascha aus dem Kubus kommt, sagt er nur: Groß! Und es ist Albert nicht klar, ob er die Leinwand oder die Fotos meint. Kati hingegen wirkt ziemlich erschüttert: Man sieht das ganze Unglück, diese Menschen... Und dass nichts sie retten kann… Man sieht, dass man sie trotzdem gern hat… Dass du sie mit deinen Fotos irgendwie gern hast… Dass auf den Fotos alles irgendwie zart ist und auch wieder brutal… Und dass das die Wahrheit ist.

Und das Foto des Mädchens mit der Rose? Werden wir die Wahrheit erfahren? Oder vielmehr erkennen, dass Saschas, Katis und Alberts Wahrheiten zwar nicht identisch sind, aber trotzdem stimmig sein können.


Die monatliche ADZ-Reihe „Wertvolle Jugendbücher“ möchte Kinder und Jugendliche zum Lesen in deutscher Sprache anregen. Die Bücher sind in den deutschsprachigen Bibliotheken des Goethe-Instituts auszuleihen.