ADZ-Reihe Wertvolle Jugendbücher: Freiheit, Glück und Terror

„Die Kinder von Hoy“, Grit Lemke, Suhrkamp Nova Verlag, ausgeliehen in der Bibliothek des Goethe-Instituts Bukarest, Calea Dorobanți 32/Pavilion, www.goethe.de/bukarest

Am Anfang stehen Zukunftsbilder, entstanden unter anderem unter der Kuppel des Planetariums, das für sie, die Kinder von Hoy(erswerda), im WK VI erbaut wurde. Eine Versprechung von Zukunft, die Hoffnung auf Fortschritt, der Wunsch, Kosmonaut zu werden und all das in der Nähe der Rauchschwaden von „Pumpe“, dem damals größten Braunkohleveredlungsbetrieb der Welt. Zukunft spielt hier eine zentrale Rolle, sie war einer der Gründe, weshalb ihre Eltern in den Fünfzigern nach Hoyerswerda kamen, um genau diese Stadt, eine sozialistische DDR-Wohnstadt, mitzugestalten. Nun fahren sie, in Wellen, im ewigen Kreislauf der Schichtbetriebe ins Kombinat.

Das Buch erzählt dokumentarisch und mit großer Detailfülle in Form von realen geführten Interviews von den Lebenserfahrungen einer Generation über mehrere Jahrzehnte hinweg und macht die Leser vertraut mit den kulturellen Eckpfeilern ihrer Welt: den Kittelschürzen der Mütter, den Kulturclubs als Gegenentwurf zum Alltagstrott, eine Kindheit zwischen Wohnkomplex, Pfützen und Kellern und mit „Gundi“ Gundermann, einem von ihnen, dessen Lieder von Pumpe, dem Alltag, der Sehnsucht erzählen. Dabei wird der geschichtliche Verlauf nicht bloß erzählt, sondern spürbar gemacht. Die Bewegungen, die sich 1989 in Leipzig formieren, sind in Hoy nicht dieselben, hier geht es um „dicke Luft“, gegen Umweltverschmutzung, den Teerschlamm, der in Pumpe überlief und als giftiges Gemisch in die Umgebung verklappt wurde.

Auch wenn man nicht in der DDR aufgewachsen ist, schafft es dieses Buch, das Gefühl zu vermitteln, diese Zeit durchlebt zu haben. Und dann kommt die Wende, mit ihr die Orientierungslosigkeit, der Verlust von Strukturen, die Überforderung. Menschen, die längst keinen Schichtbus mehr von innen gesehen haben, wechseln  die politische Richtung von einem Tag auf den anderen, nicht aus Überzeugung, sondern aus Frust, aus Leere, aus Zukunftsangst.
Das Feindbild wird „der Andere“, die Vertragsarbeiter, die Ausländer. Die wachsenden Spannungen entladen sich in dem Ereignis, das Hoyerswerda traurige Bekanntheit verschaffte: dem Pogrom im September 1991. Aber das Buch zeigt auch: Die Gewalt endete nicht dort. Denn nachdem die „Ausländer“ vertrieben waren, suchte sich die Wut neue Ziele. Man könnte sagen, die Dynamik, die sich hier entfaltet, folgt einer bekannten Logik: Wer heute schweigt, weil er nicht betroffen ist, könnte morgen selbst zur Zielscheibe werden.

„Kinder von Hoy“ schafft Verständnis für den Kontext, in dem solche Eskalationen entstehen. Und es sensibilisiert für die politischen und sozialen Brüche, die bis heute nachwirken. Eine Möglichkeit, Gegenwart und Zukunft einzuordnen. Wie geht es weiter mit den Menschen, die infolge der Pogrome das Land verlassen mussten? Mit den Kulturstätten von Hoy? Mit dem Selbstbild einer Stadt? Welche Vision von Zukunft hat sich in Hoyerswerda entwickelt?
Der Roman von Grit Lemke nimmt uns mit bis in die Jetztzeit.


Die monatliche ADZ-Reihe „Wertvolle Jugendbücher“ möchte Kinder und Jugendliche zum Lesen in deutscher Sprache anregen.  
Die Bücher sind in den deutschsprachigen Bibliotheken des Goethe-Instituts auszuleihen.