Wer hat sich nicht schon einmal verliebt? So sehr, dass es geradezu weh tut, die andere Person nicht zu treffen? So geht es auch Nik, dem siebzehnjährigen Hauptcharakter von Liv K. Schletts Roman „Was du nicht erwartest“. Nur, dass er nicht nur seufzt und an die andere Person denkt, sondern Tag und Nacht an der Bushaltestelle auf sie wartet, bis die Polizei ihn wieder komplett unterkühlt zu seiner Mutter bringt. Denn Nik ist Autist und geht mit den Dingen etwas anders um.
Doch einen Moment! Liv. K. Schlett? Steht auf dem Cover nicht „Jan Cole“? Jan Cole ist doch der Autor dieses Buches! So steht es auch auf der Website des Monika Fuchs Verlages aus Hildesheim, welcher das Buch herausgibt. Genauso wie auf Coles Instagram, oder auf seiner Website mit der passenden URL: jancole.de. Unter einem großen Bild eines Hundes stellt er sich vor: Jan Cole, Anwalt, hat bereits eine Trilogie im Eigenverlag veröffentlich, liebt Bücher, Kaffee und lange Spaziergänge mit seinem Hund.
„Er ist irgendwie die idealtypische Vorstellung von einem Autor im mittleren Alter von mir“, erklärt Schlett. Denn Liv Schlett ist nicht nur die eigentliche Autorin von „Was du nicht erwartest“, sondern auch die Erfinderin von Jan Cole. Betrug! Etikettenschwindel! „Genau das war von Anfang an die Idee hinter dem Buch“, meint die Autorin. „Ich denke, so ein kleiner Schwindel ist nicht verwerflich. Es gehört zum Buch, zur Kunst!“
Denn dieser fiktive Jan Cole ist ebenfalls in der Geschichte des Romans. Zum einen sind seine angeblich bereits veröffentlichten Bücher ein tragendes Plot-Element, zum anderen tritt er selbst als strahlender Retter im Finale der Geschichte auf. „Vielleicht ist er ein bisschen zu toll im Roman“, glaubt Schlett, doch der Schwindel ging auf. Der Autor, der selbst ein Teil der Geschichte ist, wurde von vielen Menschen für voll genommen. Das war auch die Idee dahinter: ein fiktiver Autor, in einem fiktiven Text, der scheinbar wirklich existiert und damit den Anschein erweckt, dass die Geschichte auch wirklich passiert ist. Nach etwas Überzeugungsarbeit bei ihrer Verlegerin Monika Fuchs hatte die Debütantin auch sie so weit: zusammen waren sie „Feuer und Flamme für die Idee“.
Also designte sie mit ihrer Verlegerin eine falsche Website und fing bereits ein Jahr vor Veröffentlichung an, einen Jan Cole Instagram-Account zu betreiben. Wenn, dann schon richtig. „Natürlich wollte ich das Buch irgendwie bewerben, aber ich selbst konnte das ja nicht. Da musste der neue Account her.“
In diesem Monat, März 2023, kommt die Wahrheit ans Licht. Auf Instagram wird Schlett den Fans ihres Buches erklären, dass sie in Wirklichkeit Jan Cole ist, beziehungsweise dessen Schöpfer. „Ich hoffe, dass alle es gut annehmen“, erklärt sie. Denn irgendwie wurde man als Leser ja doch ein bisschen an der Nase herumgeführt. Doch auch sie selbst als Autorin hat sich ein bisschen ausgetrickst: „Seit ich 13 bin, schreibe ich Bücher. Jetzt habe ich endlich eines veröffentlicht und mein Name steht nicht drauf! Das ist bitter, aber ich wollte es unbedingt so haben. Es gehört einfach zur Geschichte!“
Die Geschichte steht für die junge Autorin im Vordergrund und das auch, weil sie sehr persönlich ist. Es geht um zwei Hauptpersonen: Nik, welcher Autist ist und Mai, welche an Magersucht leidet. Beide treffen sich ausgerechnet in der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Kein unbekanntes Thema für die Autorin. Schlett war selber ungefähr 14 Monate in unregelmäßigen Abständen im Alter von 16 bis 18 in einer Kinder- und Jugendpsychiatrie. Auch sie litt unter einer Essstörung und dazu unter einer posttraumatischen Belastungsstörung. „Ich kenne aus eigener Erfahrung den Alltag in so einer Klinik, mit gemeinsamen Mahlzeiten und Essensbegleitungen und all sowas“.
Genau dieser neuen Welt müssen sich auch Mai und Nik stellen, welche das erste Mal an einem solchen Ort sind und sich kennenlernen. Beide merken schnell: sie haben Probleme, die komplett unterschiedlich sind, über die sie jedoch offen miteinander reden können. Nik braucht immer Ordnung – eine gewisse Sicherheit in Zahlen. Wenn er an einer Allee vorbeifährt, muss er die Bäume zählen. Bus fahren ist für ihn die Hölle – zu unregelmäßig ist der Verkehr, das Stehenbleiben des Busses und der ratternde Motor – wohingegen das regelmäßige Fahren von Trams oder U-Bahnen kein Problem ist. Mai hingegen fürchtet nichts mehr an einem Tag, außer das Essen, wo sie von den Menschen aus ihrem Umfeld dazu gebracht wird, etwas zu sich zu nehmen. Natürlich damit sie nicht stirbt. Ihre Krankheit aber lässt sie immer nur eines denken: das ist zu viel Essen, das will und kann ich nicht.
Umgeben sind sie dabei von der sterilen Welt der Psychiatrie. Die Gespräche mit den erfahrenen und abgezockten Ärzten und mit den Pflegern, wovon einige freundlich helfen wollen, aber andere durchaus streng zur Ordnung rufen: Mai solle endlich ihre Mahlzeit komplett und restlos aufessen und Nik solle doch bitte mit den anderen Menschen kommunizieren und nicht nur in seinem Zimmer sitzen! Dies ist leichter gesagt, als es für die beiden getan ist.
„Es ist wichtig, darüber zu schreiben, damit die Jugendlichen und Erwachsenen, die davon betroffen sind, sich auch gesehen fühlen“, erklärt Schlett. Gerade Literatur ist für Menschen mit psychischen Krankheiten wichtig, glaubt die Autorin. Bei einem Schreibworkshop, den sie in ihrer alten Kinder- und Jugendpsychiatrie gab, fragte sie einmal in die Runde, wer von den Anwesenden denn selbst schreibe. „Es haben richtig, richtig viele ihre Hand gehoben“, berichtet sie. „Ich glaube einfach, dass Schreiben und Therapie viel gemeinsam haben. Bei beiden geht es darum, Ordnung zu schaffen und Zusammenhänge herzustellen. Dazu kommt, dass Menschen, die psychisch krank sind, oft auch kreativ sind. Um kreativ zu sein, braucht man eine gewisse Sensibilität für die Welt und wenn man sensibler ist, dann ist man auch anfälliger dafür, mit dem, was man sieht, nicht klar zu kommen.“
Dieses Bild zieht sich auch durch den Roman. Nik und Mai kommen weder zuhause noch in der Psychiatrie klar, weshalb die beiden fliehen, in einen Roadtrip von Berlin bis nach Frankfurt am Main. Denn auch wenn sie nicht mit der Welt, oder die Welt nicht mit ihnen klarkommt, kommen sie wenigstens miteinander gut aus. Vielleicht sogar etwas mehr als nur das.
„Es geht sicherlich im Roman auch um Liebe, aber auch um das Erwachsenwerden unter erschwerten Bedingungen“, erklärt die Autorin. Denn über allem stehen die Krankheiten. „Liebe kann die Krankheit nicht heilen“, erklärt Schlett und wer hofft, dass am Ende des Romans alle Probleme sich in Luft auflösen, der wird enttäuscht – denn so funktionieren echte Krankheiten wie Magersucht nicht. „Trotzdem kann Liebe, oder ein Mensch, der einem nahe steht und dem man vertraut, natürlich dabei helfen, dass es einem besser geht“, erklärt die Debütantin.
Genauso wie das Schreiben helfen kann. „Mit 19 oder 20, als ich selbst noch stark mit meiner Krankheit zu kämpfen hatte, habe ich mit dem Roman angefangen“, berichtet die 28-Jährige. Dann war sie selbst wieder in Kliniken und fasste das Manuskript zeitweise nicht an, bis sie 2019 eine Agentur und anschließend einen Verlag fand und das Buch „Was du nicht erwartest“ im April im vergangenem Jahr erschien.
Die monatliche ADZ-Reihe „Wertvolle Jugendbücher“ möchte Kinder und Jugendliche zum Lesen in deutscher Sprache anregen. Das vorliegende Buch ist im allgemeinen Buchhandel und auf der Seite des Verlages: www.verlag-monikafuchs.de erhältlich.