Jessica ist jung, schön, relativ begütert, liebt prachtvolle Kleider und lebt in Venedig – wer wünscht sich das nicht? Naja, im Venedig des 16. Jahrhunderts…
William Shakespeare hat schon über sie geschrieben – über sie und ihren Vater, den jüdischen Geldverleiher Shylock, in „Der Kaufmann von Venedig“. Jessica ist also noch dazu berühmt!
Und ziemlich verwöhnt, was wohl daran liegt, dass sie ohne Mutter aufgewachsen ist, denn Shylocks Frau Lea ist kurz nach ihrer Geburt gestorben. Doch je reifer und hübscher Jessica wird, umso mehr erinnert sie ihren Vater an seine geliebte Lea. Wohl deswegen hat er es noch nicht übers Herz gebracht, ihr einen Ehemann suchen zu lassen, obwohl sie mit 16 doch lange schon „mannbar“ war. Und spürt er bei ihr nicht auch eine gewisse Unruhe?
Aus Egoismus will er noch ein wenig warten. Denn wenn er abends nach Hause kommt und seine Tochter sieht, die Lea immer ähnlicher wird, dann ist das fast so, als würde ihm seine Frau neu geschenkt.
In seinem Haushalt lebt noch Amalia, die Shylock gern die Gattin und Jessica die Mutter ersetzt hätte, doch verhinderten dies strenge Regeln: Weil Amalia schon einmal verheiratet war und ihr Mann ihr den Scheidebrief gegeben hatte, da sie keine Kinder gebären konnte, und weil Shylock ein „Kohen“ war, ein Nachfahre eines alten jüdischen Priesterstandes, dem es verboten war, eine geschiedene Frau zu ehelichen, konnten sie offiziell als Paar nicht zusammenkommen. Ama-lia war also „nur“ Haushälterin im Hause Shylock. Das Mutterglück wurde ihr indirekt trotzdem zuteil, denn neben Jessica durfte sie noch ein Waisenmädchen namens Dalila aufziehen, das sonst niemanden mehr hatte und ihr im Haushalt ein wenig zur Hand gehen sollte.
Anfangs waren Jessica und Dalila wie Schwestern aufgewachsen. Später sollte Dalila ihre Zofe werden, wie sie traurig realisierte. Hinzu kam, dass Jessica schön und strahlend war, Dalila aber klein und unscheinbar. Sie schielte und vor allem wenn sie aufgeregt war, flutschte einer ihrer Augäpfel brüsk nach hinten. Von schönen Kleidern oder gar einem heimlichen Verehrer, wie Jessica einen hatte, konnte Dalila nicht einmal träumen. Was sie teilten, was das Geheimnis um diesen – der Grund für Jessicas täglichen heimlichen Ausgang, denn ihr Angebeteter, Lorenzo, war Christ. Nie würde ihr jüdischer Vater in eine Ehe mit Lorenzo einwilligen!
Die Shylocks leben in Venedig im jüdischen Ghetto, einer abgesperrten Region inmitten der ihnen meist feindlich gesinnten Christen, eine Art Gefängnis zwar, aber auch eine geschützte Zone, denn abends wird das Ghetto (von außen!) abgeschlossen.
Auch andere strenge Regeln verkomplizierten ihr Leben: jüdische Männer mussten sich durch einen roten Hut kenntlich machen, Jüdinnen durften keine reich verzierten Kleider wie christliche Frauen tragen, Goldschmuck und Putz war ihnen per Gesetz untersagt. Und doch schaffte es Jessica, ihre Rechte bis auf die äußersten Grenzen zu strapazieren – und wollte immer mehr. Lorenzo zu heiraten, mit ihm in Saus und Braus und in Freiheit zu leben, schien ihr höchstes Glück. Und so kommt es, dass sie einen fürchterlichen Verrat begeht…
Um letztlich zu erkennen, dass auch ein goldener Käfig ein Gefängnis ist und das Leben sich zwangsläufig in eine Richtung verengt, der man – gewählt oder schicksalhaft erzwungen – nicht mehr entfliehen kann. Die heiß ersehnte Freiheit gibt es nicht. Hat sich der Einsatz und die Schuld, die sie auf sich geladen hat, gelohnt?
Mirjam Pressler hat die alte Geschichte von Shylock und seiner Tochter modern interpretiert und ganz nebenbei historisches Wissen über das Judentum jener Zeit in schönen, bedrohlichen und anrührenden Bildern vermittelt. Nicht die moralische Frage steht im Vordergrund dieses spannenden historischen Romans, aus der Perspektive von Dalila erzählt, die daraus als wache, kluge Beobachterin ihre eigenen Konsequenzen zieht – sondern vielmehr die Schilderung von Lebensumständen, Regeln, Rechten und Unrecht. Dies alles vor dem Hintergrund der gegebenen Zeit – und doch so zeitlos gültig: über Menschen, hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch nach Ausbruch, Freiheit, Grenzenlosigkeit und Zugehörigkeit, Geborgenheit, Schutz.
Die monatliche ADZ-Reihe „Wertvolle Jugendbücher“ möchte Kinder und Jugendliche zum Lesen in deutscher Sprache anregen. Die Bücher sind in den deutschsprachigen Bibliotheken des Goethe-Instituts auszuleihen.