Viele aktuelle gesellschaftliche Probleme finden auch Eingang in die Literatur – Mobbing, Migration, Kriegsflüchtlinge, Extremismus, usw. Der Zugang ist dann ein ganz anderer als der gewohnte über Medien oder Fachbücher: Mit dem Haupthelden eines Buches fühlt man hautnah mit, erlebt aus eigener Perspektive - Spannung garantiert. Neben der seit 2021 laufenden monatlichen ADZ-Serie „Wertvolle Jugendbücher“ in Kooperation mit der Bibliothek des Goethe-Instituts gehen wir nun gemeinsam einen Schritt weiter: Gesellschaftsrelevante Literatur soll nicht nur passiv präsentiert, sondern auch aktiv diskutiert werden - mit interessierten Lesern, Betroffenen, Autoren, Experten... Denn Literatur, da sind sich ADZ-Chefredakteurin Nina May und Goethe-Institut-Direktor Joachim Umlauf einig, kann helfen, neue Perspektiven zu erschließen, Horizonte zu erweitern und vielleicht sogar dazu beitragen, unsere Welt ein kleines bisschen besser zu machen – empathischer, offener, toleranter. Im folgenden Interview erfahren Sie mehr über das Projekt, aber auch, welchen wichtigen gesellschaftlichen Auftrag das Goethe-Institut neben Literatur- und Sprachförderung noch erfüllt und wo derzeit die Schwerpunkte und Herausforderungen liegen.
Herr Umlauf, was uns als ADZ an dem neuen Projekt interessiert, ist, die Jugend mit aktuellen, relevanten Themen anzusprechen, und sie zum Lesen auf Deutsch zu animieren. Es gibt in Ihrer Bibliothek unglaublich spannende Bücher, wie die Serie „Wertvolle Jugendbücher“ gezeigt hat, mit ganz akuten Themen wie Mobbing oder Flüchtlinge... Was ist Ihre Motivation?
Wir wollen sowohl die Beschäftigung mit Deutsch und deutscher Sprache als auch das Lesen von Literatur verstärken, neue Inte-ressenten dazugewinnen und gleichzeitig aufzeigen, dass sich Literatur heutzutage durchaus auch mit gesellschaftlich relevanten Fragen befasst, die mit anderem Licht als dem rein faktenrelevanten beleuchtet werden. Wir wollen damit auch jüngere Menschen ansprechen, die Deutsch studieren oder in den Oberstufenklassen der deutschsprachigen Schulen oder Sektionen lernen, in einer sprachlich ansprechenden, nicht allzu verklausulierten Form, so dass auch Lernende ab einem Niveau B2 folgen können, ohne frustriert zu sein. Das ist sowohl für die Veranstaltungen wichtig, aber auch für die Präsentation der Bücher in der ADZ.
Warum ist es heutzutage trotz Internet noch wichtig, Bücher zu lesen?
Was bleibt denn von uns in hundert Jahren? - Die Kultur! Natürlich gibt’s auch die Geschichte, aber um nachzuspüren, was die Menschen bewegt hat, wie sie die Dinge eingeschätzt und wie sie gefühlt haben, da spielen Bücher eine Rolle.
Es geht aber auch um eine Entschleunigung: Ein Buch zu lesen ist eben anders als einen kurzen Artikel auf Facebook. In unserem beschleunigten Alltag ist es wichtig, sich auch mal intensiv mit etwas zu beschäftigen.
Außerdem gibt es spannende Bücher zu Themen, die sonst eher schwierig zu erschließen sind...
Ja, die Leute abzuholen, die sich schon mit einem Thema beschäftigen - auch das ist eine echte Aufgabe. Wir als Goethe-Institut tun das auch an anderen Stellen schon: Im September bei-spielsweise strahlen wir ein auf Zoom geführtes literarisches Gespräch von mir mit einem Autor, Norris von Schirach, in mehreren Ländern aus. Norris von Schirach lebt in Bukarest und ist dabei, eine Trilogie zu schreiben, Band 1 und Band 2 sind schon erschienen, da geht es um seine Jahre in Osteuropa in den 90ern - Umbruchjahre, Raubkapitalismus im Rohstoffhandel. „Blasse Helden“ spielt in Moskau und „Beutezeit“ in Kasachstan, in Band 3 wird es um Rumänien gehen.
Da unterhalte ich mich mit ihm vor dem Hintergrund des Ukraine-Kriegs da-rüber, was man damals hätte anders machen können und ob er schon früher zu der Einschätzung gekommen ist, die wir in Deutschland uns lange verwehrt haben, zu sehen: dass wir es bei Putin mit einem gefährlichen Diktator zu tun haben, was man spätestens mit der Annexion der Krim 2014 hätte realisieren müssen.
Der zweite Schwerpunkt ist die Ungleichheit im Ost-West-Verhältnis, die sich selbst bei uns in Deutschland noch widerspiegelt, in unterschiedlichen Gehältern oder, dass man befürchten muss, dass der Osten bei den nächsten Regionalwahlen in bestimmten Ländern in hohem Maße AfD wählt. Es gibt immer noch den Vorwurf, der Westen habe sich den Osten etwas „kolonial“ einverleibt.
Das sind Fragen, mit denen wir uns im Kleinen in Deutschland und im Großen in der EU befassen müssen: Wie verbessern wir den Austausch zwischen Osten und Westen zur Stärkung des Zusammenhalts in der EU? Wie fördern wir die Demokratie in Rumänien und in der Moldau, wo wir auch tätig sind?
Wir sollten vielleicht das Thema Demokratie und Rechtsextremismus, sowie damit verbundene Aspekte wie Hassrede und freie Meinungsäußerung auch in unser Projekt aufnehmen. - Inwiefern sollen wir die Leser an der Themenwahl beteiligen?
Fassen wir doch dieses Interview als Aufruf dazu auf, uns Themen vorzuschlagen! Das Thema der ersten Runde kündigen wir dann an - und dann können die Leute auch Bücher dazu vorschlagen. Das müssen nicht immer Neuerscheinungen sein. Zum Thema Mobbing findet man sicher auch etwas in den Klassikbeständen, was den Tatbestand beschreibt, ungerechte Verfolgung oder öffentliche Denunzierung.
Allein in unserer Jugendbuchserie gab es schon drei, die ich vorschlagen würde! Damit aber zur nächsten Frage: Die Bücher kommen alle aus Deutschland, wie können wir den Rumänienbezug herstellen?
Die in der ADZ von uns zunächst für ein Jahr lang alle zwei Monate vorgestellten Bücher können in der da-rauffolgenden Veranstaltung noch einmal beleuchtet werden, aber dann sollte es in den Diskussionen eher um Rumänien gehen. Auch durch die Moderatoren oder Experten wird der Rumänienbezug hergestellt.
Wir werden in der ADZ auch über die Ergebnisse dieser Diskussionen berichten. Welche Themen können wir den Lesern nun schon in Aussicht stellen?
Fangen wir, wie besprochen, mit Mobbing an und als zweites, weil nahe an Weihnachten und etwas netter, Siebenbürgen. Dann hätten wir als Drittes noch Migration, viertens Extremismus/Populismus/Fake News, fünftens – und ich denke jetzt an die Europawahlen nächsten Mai – warum nicht Europa: Einigkeit in Vielfalt?
Wird es die Bücher für dieses Projekt dann auch mehrfach in der Bibliothek des Goethe-Instituts geben, so dass man sie vor der Veranstaltung lesen kann?
Ja, wir wollen gleich mehrere Ausgaben bestellen. Ohnehin wollen wir in Zukunft die Bibliothek stärker in den Vordergrund rücken - nicht nur zum Lesen, auch als Frei- und Aufenthaltsraum, wo man hinkommen und Hausaufgaben machen oder arbeiten kann. Es gibt ja Leute, die haben zuhause sehr beschränkten Arbeitsraum. Wir wollen die Öffnungszeiten ausdehnen und auch mal abends aufmachen.
Kommen wir ein bisschen auf die allgemeinen Schwerpunkte des Goethe-Instituts in der Kulturarbeit zu sprechen. Wie haben sich diese im Laufe der Zeit gewandelt?
Dazu beginnt im Herbst ein europäisches Projekt mit zehn Partnern aus sieben Ländern: Es heißt Nardif und darin geht es um die Ost-West-Narrative - was erzählt man voneinander? Also, wie hat die auswärtige Kulturpolitik auf die Menschen in Rumänien gewirkt, seit das Goethe-Institut 1979 hier eröffnet wurde? Das kann man schön in drei Phasen einteilen: 1979 bis zur Wende 1989, dann 1989 bis zum EU-Beitritt Rumäniens 2007 und danach.
Und wie misst man die Wirkung der Kulturpolitik auf die rumänische Gesellschaft?
Gute Frage - das machen wir mit dem Institut Francais zusammen, die sind schon hundert Jahre hier, mit dem polnischen Institut und dem rumänischen ICR. Es gab zwar schon immer Messmethoden, aber die waren viel zu grob. Jetzt wollen wir in dem EU-geförderten Projekt vier Doktoranden damit beauftragen. Jeder schaut sich ein Land und ein Kulturinstitut an und die werden hoffent-lich zu Ergebnissen kommen, die uns auch sagen, was wir in Zukunft tun sollen. Ein Beispiel: Bis jetzt sind wir sehr in einer Optik, dass wir darstellen, was wir tun – auf Webseiten, Facebook, Instagram. Vielleicht sollten wir aber auch versuchen, andere Themen als bisher aufzugreifen - Europa stärken und ähnliches, oder wie ein wirkliches Medium zu arbeiten und gerade in Rumänien, wo die Medienlandschaft recht schwach ausgeprägt ist, versuchen, aktiv positiven Einfluss auszuüben.
Damit wären wir ja wieder zurück bei unserem Projekt: die Gesellschaft stärken. Horizonte erweitern, Empathie, Toleranz und Vielfalt fördern...
Ein anderes Beispiel: ich war kürzlich bei einer Veranstaltung, in Szeklerburg/Miercurea Ciuc, wo wir mit dem ifa ein Jugendcamp für 70 Jugendliche der deutschen Minderheit aus zehn Ländern gemacht haben. Dieses Jugendcamp war ganz toll - und ich kann Ihnen genau sagen, warum: Zwei Wochen haben Jugendliche mit verschiedenen kulturellen Hintergründen aus Kasachstan, Lettland, Estland, Serbien usw. zusammengearbeitet, alles auf Deutsch, eine Gruppe über Nachhaltigkeit und Ökologie, eine über Grenzen und Migration... Präsentationen, Performances, Theater... Und sie kamen gar nicht mehr alle strikt aus der deutschen Minderheit. Aber das ist die Zukunft, eben das Multikulturelle in der deutschen Minderheit zu stärken. Raus aus dem sterilen Einheitsmilieu! Das ist so ein bisschen der Kern unserer Arbeit: Wir wollen immer versuchen, neben Deutschland und Rumänien auch noch andere kulturelle Horizonte einzubeziehen.
Welche Projekte haben Sie in dieser Hinsicht für die nächste Zeit geplant?
Zum einen bleibt unser Fokus auf jungen Festivals und Zusammenarbeit mit verschiedenen Institutionen, die Minderheiten repräsentieren. Wir werden mit dem jüdischen Filmfestival zusammenarbeiten. Für nächstes Jahr haben wir ein großes Projekt, das Schreiben und Aufführen einer zeitgenössischen Oper in Pata Rât bei Klausenburg, zusammen mit den Roma, die dort auf einer der größten Müllkippen leben. Das machen wir mit dem lokalen Radio zusammen. Wir suchen Roma-Künstler und -Künstlerinnen, machen Workshops mit Kindern und Jugendlichen, Musik etc.
Warum ausgerechnet so etwas Schweres wie Oper?
Das ist ja die besondere Herausforderung. Oper als deutsche Traditon - viele wissen gar nicht, dass jede dritte Oper in Deutschland aufgeführt wird, und uns geht es darum, zu zeigen, dass man durchaus traditionelle Formen kulturellen Ausdrucks modernisieren kann. Oper ist als Kunstform sehr aufwendig und damit auch schwer zu exportieren. Aber das haben wir uns zum Ziel gesetzt und ich bin gespannt, was heraus kommt. Jetzt suchen wir noch Sponsoren.
Apropros Sponsoren, wie ist das Goethe-Institut in den immer schwierigen Zeiten multipler Krisen finanziell aufgestellt?
Das Goethe-Institut steckt zurzeit in einer großen Krise. Sie wissen ja, was in Deutschland mit dem Budget passiert... Wir werden in absehbarer Zeit keine Budgetaufwüchse haben und stagnieren bei einem Budget, was dem von 2017 entspricht. Schon ab nächstes Jahr werden uns über 20 Millionen Euro fehlen! Dies bei Inflation, Kostensteigerungen und steigenden Mieten. Das Goethe-Institut ist derzeit mit dem Auswärtigen Amt in Verhandlung, da wird in Bälde ein Maßnahmenplan kommen. Ich vermute, es wird weltweit Anpassungen geben, unter Umständen verkleinerte Institute. Doch ich denke - hoffe - bin sicher, dass es uns hier nicht allzu sehr betrifft, eher Regionen von geringerer geostrategischer Bedeutung. Aber es werden trotzdem zwei-drei harte Jahre, bis die Reform vorbei ist und das bedeutet in der Regel weniger Geld. Wir bleiben positiv und hoffen, dass sich alles gut entwickelt.
Vielen Dank für das interessante Gespräch und ich freue mich auf den Beginn unseres gemeinsamen Projekts im Oktober.