Langsam füllt sich die evangelische Kirche von Rothberg/Ro{ia mit Menschen - ein seltenes Ereignis seit dem Exodus der Sachsen, die so eilig nach Deutschland aufbrachen, dass sie ihre Schals und Tücher auf den Kirchenbänken zurückließen. Das Streichtrio nimmt seinen Platz vor dem prachtvollen Altar ein - dort, wo am Morgen noch Pfarrer Schlattner in festlich weissem Talar einen Gottesdienst hielt, für die evangelischen, katholischen und orthodoxen Gäste, die Musiker und die Wahljüdin, die diese Veranstaltung erst ermöglicht hat. Organistin Ursula Philippi klettert auf die Empore und entlockt dem im vergangenen Juni feierlich eingeweihten, weil neu restaurierten Instrument ungewöhnliche Klänge - die „Phantasie” von Norbert von Hannenheim. Hannenheim, der siebenbürger Komponist, der in Hermannstadt/Sibiu aufwuchs und einst die schöne Sächsin Gertrud Goldschmidt verehrte, die Mutter des bekannten Schriftsteller-Pfarrers Eginald Schlattner...
Hannenheim, der Lieblingsschüler Arnold Schönbergs, dessen Zwölftontheorie die Kommunisten und Begründer des Dritten Reichs gleichermassen entrüstete. Entartet nannte man diese Musik. Verfemt und verfolgt wurden Noten und Komponisten, viele mit dem Leben bedroht. Hannenheim, dessen Namen man gar nicht oft genug nennen kann, denn seine Werke galten lange als verschollen, auch danach, als Kommunismus und Drittes Reich längst der Geschichte angehörten. Nicht so die Komponisten der verfemten Musik, denn was man nicht kennt, ist kein Teil der Geschichte. Es versinkt für immer in der Tiefe der Vergessenheit.
„Muzica reanimata” - wiederbelebte Töne
Dem Vergessen vehement entgegenzuwirken bemüht sich seit 1990 die Berlinerin Heidemarie Ambros mit dem Verein „Musica reanimata”. Die Wahljüdin, die mit 40 zum mosaischen Glauben übertrat und seither auch den Vornamen Tamar trägt, fahndete in Wien, Prag, Leipzig und Paris nach den verschollenen Noten und initiierte in Kooperation mit der Bar Ilan Universität (Tel Aviv) Konzerte und Musikkolloquien in Deutschland.
Um die bisher ungehörte Musik auch in Siebenbürgen vorzustellen, organisierte sie die Konzertreise „Pontus musicae”, die vom 22.-29. Juni durch Hermannstadt, Rothberg, Fogarasch und Kronstadt tourte. Für das ungewöhnliche Vorhaben konnte sie die Musiker des Aron-Streichquartetts aus Wien, den Pianisten Moritz Ernst und das amerikanisch-deutsche Ensemble „elysium between the continents” gewinnen. Im Juli gastiert „Pontus musicae” erneut in der evangelischen Stadtpfarrkirche in Hermannstadt (26.), der Schwarzen Kirche in Kronstadt (28.) und im Schloss Pele{, Sinaia (30.), mit dem Cellisten C?t?lin Ilie, dem elfjährigen Wunderkind Constantin Siepermann sowie der bekannten Organistin Ursula Philippi.
„Nicht alles, was als verschollen gilt, ist auch tatsächlich nicht vorhanden”
Im Repertoire der Konzertreise befinden sich neben den Werken Hannenheims Stücke des Komponisten Gideon Klein, der 1945 mit 26 Jahren unter ungeklärten Umständen ums Leben kam. „Für mich ein zweiter Mozart”, bekennt Heidemarie Tamar Ambros ehrfürchtig. Zusammen mit dem Schönberg-Schüler Victor Ullmann, der ebenfalls in der Konzertreihe vorgestellt wird, galt Klein als einer der besten vier Komponisten im Konzentrationslager von Theresienstadt, die 1944 nach Ausschwitz deportiert wurden.
Victor Ullmann fand dort kurz nach der Ankunft den Tod. Der größte Teil seiner Werke sind seither verschollen, erhalten blieben 15 Kopien von Kompositionen, die er im Eigenverlag herausgegeben und einem Freund zur Aufbewahrung anvertraut hatte. „Doch nicht alles, was als verschollen gilt, ist auch tatsächlich nicht vorhanden”, meint Heidemarie Tamar. „Man weiss nur nicht, wo man es findet! In jahrelanger, akribischer Suche durchstöberte ich daher die Universitätsarchive – und fand, und fand, und fand...” Die Musikwissenschaftler freuten sich über die schwarzen Pünktchen auf dem weissen Papier, doch Heidemarie wollte auch die Töne zum Leben erwecken. Denn: ungehörte Musik ist keine Musik!
Ruine der Synagoge Fogarasch für kurze Zeit zum Leben erweckt
Mit Schlattner verband sie eine langjährige E-Mail Freundschaft, und so kam sie auf die Idee, Siebenbürgen – und Rothberg – als Bühne für die bislang kaum gehörte, auch in Deutschland weitgehend unbekannte Musik auszuwählen. In Ruxandra Ilie, der Tochter des in Deutschland lebenden Musikers Catalin Ilie, fand sie eine tatkräftige Mitstreiterin. „Synagoge Fagarasch” lautete der Arbeitstitel von „Pontus Musicae” im Planungsstadium, und so schien es selbstverständlich, auch die aufgelassenen Synagoge des Karpatenstädchens in die Konzertreise mit einzubeziehen.
Ein mutiges Vorhaben, denn das verfallene Gemäuer diente lange als Unterschlupf für Obdachlose und befindet sich in dementsprechendem Zustand: die Türstöcke gebrandschatzt, das Parkett herausgerissen und an der Decke kann man nur noch Spuren des heruntergefallenen Stucks entdecken. An den Wänden prangen noch filigrane Muster und die Empore lässt erahnen, dass dies einst ein stolzes Gebäude gewesen sein muss. Der morbide Charme des Ortes passt zum Thema...
Auf der improvisierten Bühne vor dem Altar bauen die Musiker ihre Notenständer auf und platzieren die Instrumente um das Rattenloch im übriggebliebenen Parkett. Die Sitzreihen der Zuschauer stehen auf Schotter, vor zwei zerbrochene Fenster werden eilig graue Wolldecken drapiert, damit es den Musikern nicht in den Rücken zieht. „Eigentum der Bundeswehr” steht darauf, dahinter prangt ein eherner Davidstern auf dem Fenstergitter.
Ungewöhnlich kalt ist es geworden an diesem Sommertag des 25. Juni, dank eines Gewitters am Vortag. Frierend drängen sich die Zuschauer zusammen, während sich am Himmel ein neuer Weltuntergang zusammenzubrodeln scheint. Die Musiker tuscheln mit skeptischen Gesichtern. Worauf haben sie sich da nur eingelassen? Vor dem Abbild des heiligen Torah-Schreins auf himmelblauem Grund mit weissen Wölkchen nimmt das österreichische Streichtrio Platz. Die feinen Herrenanzüge und die edlen Instrumente bilden einen seltsamen Kontrast zu den löchrigen Wänden und dem verblichenen Parkett.
Dann lösen sich erste Klänge aus den Bäuchen von Geige, Cello und Kontrabass. Sie dringen kraftvoll vor in den luftigen Raum, erobern die brüchigen Wände und erheben das Publikum in eine neue Dimension des Klangs - Gideon Klein, dann das Streichtrio von Hannenheim. Kommt es uns nur so vor, oder ist die Akustik tatsächlich besser als an allen bisherigen Orten? Die Streicher fiedeln mit Leidenschaft gegen Kälte, Wind und Wolkenbruch an. Das letzte Stück müssen sie auswendig spielen, denn der Himmel hat sich so zugezogen, dass die Noten im Halbdunkel verschwinden. Gottlob ist es ein vertrauter Beethoven, der als Abschluss hinzugefügt wurde, „denn die Ohren müssen sich an die neue Musik erst gewöhnen”, meint die Organisatorin.
„Hier empfängt man uns nicht”
Ruxandra Ilie steht unterdessen vor dem Eingang und bittet die dort stationierten Taxifahrer, ihre Radios dem Konzert zuliebe leiser zu drehen. Die Roma Männer kommen der Bitte nach, steigen neugierig aus und lauschen der Musik. Hineingehen möchten sie trotz Aufforderung nicht. „Nu ne prime{te aici” (hier empfängt man uns nicht), meint einer. „Beethoven” kommentiert ein anderer, und „gleich kommt das Cello”!
Bei der anschließenden Kaffeerunde im warmen Büro des evangelischen Pfarrers Johannes Klein wird lange über das Ereignis diskutiert. Ist es Respekt vor dem jüdischen Gotteshaus, bewusste Distanzierung oder das Gefühl, tatsächlich nicht willkommen zu sein? Langsam erholen sich nun auch die Musiker von der Kälte. Die Unbill ist vergessen, am Ende bleibt nur noch das eindrucksvolle Erlebnis. Geiger Barna Kobori fasst treffend zusammen: „Es war, als hätten wir im Krieg gespielt”