Gerhard Eike hat diese Welt verlassen. Seine Stimme, die manchmal bei langen Gesprächen Freunde zum Mitdenken angeregt hat, ist für immer verstummt. Wir werden sie so nicht mehr hören. „Das Leben mancher Menschen ist wie ein Schiff auf den Meereswellen. Es hinterlässt keine Spuren“, sagte einst Schlomo Korngold.
Eike kannte diese Ansichten. Er jedoch hinterließ schon zu Lebzeiten geistige Spuren, zum Teil auf über tausend beschriebenen Blättern. Es sind wichtige „Spuren“, die vielleicht eines Tages gelesen und gedeutet werden. Zu seiner ständigen Begleitung – selbst wenn er einen Arzttermin hatte – gehörten einige Bücher, die er immer bei sich trug. Nun sind diese Bücher herrenlos zurückgeblieben. Völlig „zerlesen“ und mit zahlreichen Notizen versehen. „So, dass man manchmal kaum noch den gedruckten Text erkennen kann“, sagt seine Lebensgefährtin und Ehefrau, die Ärztin Dr. Brigitte Janesch-Hügel.
Zu diesen Büchern gehört die Thora, die Kabbala und der Band „Die Buchstaben des Lebens“ des chassidischen Erzählers Friedrich Weinreb. Sie waren die ständigen Begleiter von Gerhard Eike – dem Dichter und Denker, dem Lebenskünstler und Kommentator des Lebens, der schon seit Langem geistig jenseits der siebenbürgischen Parallelgesellschaft stand.
Denn seine Welt war diese nicht mehr. Seine Welt wurden die vielen Bücher, darunter besonders auch Werke von Goethe, Lao Tse, Rumi, Hafis und Shakespeare sowie über zwanzig verschiedene Bibelausgaben, die nun auch zu seinem Nachlass gehören.
Als er 1964-1968 in Bukarest Kunstgeschichte studierte, begegnete ich ihm einmal an einem Sommerabend im kleinen Park vor dem Rumänischen Athenäum. Er saß auf einer Bank und schien zu schlafen. Doch eigentlich hatte er nur die Augen geschlossen. Ich setzte mich zu ihm und unser Gespräch ist mir heute noch gegenwärtig.
Er sagte, er werde mit dem Nachtschnellzug in die Maramuresch fahren und vom Isatal aus zu einem kleinen, abgelegenen Bergdorf wandern – weit weg vom Zeitgeschehen, wo gerade eine Studienfreundin die Fresken der alten Holzkirche restauriere. Dort gebe es für ihn, so lange er bleiben will, Kost und Quartier im Pfarrhaus. Der Pope sei gastfreundlich und ein vielseitig gebildeter Mann, eigentlich ein Philosoph, mit dem er am Abend bei einer Flasche Wein lange Gespräche führen werde. Sonst, meinte er, wolle er tagsüber nur „die Ruhe“ suchen. Ruhe, um „nachdenken“ zu können.
Auf meine Frage nach seinem Gepäck, entnahm er aus der Brusttasche seines Jeanshemds eine Fahrkarte, eine Zahnbürste und seinen Personalausweis, in dem einige Geldscheine steckten. Er meinte, mehr brauche er nicht, denn er wolle „ganz frei“ sein. Frei von jedem Besitz. Nichts besitzen und nichts tun müssen, außer dem, was man gerade tun möchte. Danach wechselten wir das Thema und sprachen über die „Volksgotik“ der nordrumänischen Holzkirchen und die Symbolik ihrer Fresken, wo er sich gut auskannte.
Gerhard Eike suchte damals schon „die Gedankenfreiheit“ und hoffte, diese in abendlichen Gesprächen mit einem alten rumänischen Popen zu finden. Und das weit weg von unserer stigmatisierten Gegenwart in der lauten rumänischen Hauptstadt. „Was ist das für ein seltsamer Mensch, dieser Gerhard Eike“, dachte ich damals, „es gelingt ihm, in eine spirituelle Einsamkeit am Rande der nordrumänischen Waldkarpaten zu fliehen, um so zeitweilig der Gegenwart zu entkommen und sie zu vergessen …“
Eike, der am 14. September 1945 in Agnetheln/Agnita geboren wurde und in Schäßburg/Sighișoara aufgewachsen ist, hatte sich erst Jahre später in seiner Bukarester Umwelt irgendwie zurechtgefunden. Er war nun „integriert“, würde man heute sagen. Im bekannten Kriterion Verlag erschien 1975 sein Gedichtband „6 & sechzig konelliptische Landschaften“, wo er Gedanken und Erkenntnisse aus jener Zeit künstlerisch verarbeitet hatte. Als Redakteur der Bukarester Monatsschrift „Volk und Kultur“, 1969-1977, publizierte er eine Vielzahl von kunstkritischen Aufsätzen, drehte mehrere Fernsehfilme, hielt kunsthistorische Vorträge und leitete den von ihm gegründeten Ästhetik-Club des Schiller-Hauses. 1987 wurde er dann an der Bukarester Universität bei Prof. Raoul Șorban mit einer Arbeit über den Bukarester Bildhauer Frederic Storck zum Dr. phil. promoviert. Später veröffentlichte er noch eine Monografie über den Maler Hans Hermann sowie einen Gedichtband seines Vaters Eckart Hügel („Das Hohelied des Lebens“, 1990).
Bevor er im Januar 1977 Bukarest verließ, als ihm die Flucht in den Westen gelang, hatte er in seiner Mansardenwohnung an der Kiseleff-Chaussee, unweit des Triumphbogens, eine improvisierte Ausstellung mit Arbeiten der Readymade Art oder Art trouvé, installiert. Diese kleinen Kunstwerke – darunter auch ein vieldeutiger „Büstenhalter“ – gehörten, kann man heute sagen, zu den ersten anonymen Beispielen einer von Marcel Duchamp bis Robert Rauschenberg initiierten Objektkunst. Die hatte sich damals durch eine zufällig offene Hintertür zögerlich Eingang in die Bukarester Kunstszene verschafft.
Nach einem tragischen Unfall, 2005 in Peru, als er beim Fotografieren von den Stufen einer vorkolumbianischen Pyramide stürzte, begann sein langer von Schmerzen gezeichneter Leidensweg, auf dem ihn seine Frau Brigitte fürsorglich begleitete. Am 25. März verabschiedete er sich gegen Abend mit den letzten, leisen Worten: „Ich kann nicht mehr, lasst mich gehen …“
Dazu will ich hier zum Abschied noch fünf Worte aus den „Sprüchen der Weisen“ von Israel Steinberg nachreichen, weil ich weiß, dass er sie verstehen würde. Dort heißt es: „Wer richtig lebt, stirbt niemals.“