Das 1958 ins Leben gerufene Festival „George Enescu“, zu dem weltbekannte Größen klassischer Musik nach Rumänien kommen und das nationale wie internationale Publikum mit Konzerten in Bukarest, aber auch in anderen Teilen des Landes begeistern, erlebt in diesem Jahr seine 21. Folge, die den ganzen Monat September über täglich für erstklassige musikalische Darbietungen sorgt: von der Barockmusik bis zur Musik der Gegenwart, von monumentalen Orchesterwerken bis zu intimer Kammermusik, von sinfonischen Instrumental- und Vokalwerken bis zu Oper und Ballett, nicht zu vergessen die zahlreichen musikalischen Hommagen an die in diesem Jahr besonders gefeierten Komponisten Verdi und Wagner sowie an den Namensgeber des Festivals George Enescu.
Am vergangenen Sonntag wurde das diesjährige Enescu-Festival im Großen Saal des Palastes feierlich eröffnet, zunächst verbal durch zwei kurze Ansprachen des künstlerischen Leiters des Festivals Ioan Holender und des rumänischen Kulturministers Daniel Barbu, dann im eigentlichen Sinne durch die Musik George Enescus. Die Staatskapelle Berlin unter der Leitung ihres „Dirigenten auf Lebenszeit“ Daniel Barenboim ließ die zweite der beiden Rumänischen Rhapsodien (op. 11) des großen rumänischen Komponisten im vollbesetzten und mit Blumen geschmückten Konzertsaal erklingen. Flöte, Oboe, Fagott und Bratsche begeisterten mit wundervollen Solos, eingebettet in einen differenzierten Orchesterklang, und ließen den Geist rumänischer Volksmusik einfühlsam aufleben, den Enescu in seinen beiden Rhapsodien künstlerisch destilliert und essentialisiert hat.
Am Vortag hatte Daniel Barenboim in einer Bukarester Pressekonferenz zu bedenken gegeben, dass die Rezeption des facettenreichen Gesamtwerkes von George Enescu zumindest außerhalb Rumäniens unter der Popularität seiner Rhapsodien gelitten habe. Umso dankbarer konnten die Zuhörer des Eröffnungskonzertes sein, dass die Staatskapelle Berlin gerade mit dieser bedeutenden Komposition den Auftakt zum diesjährigen Enescu-Festival gegeben hat.
Der Solist des Eröffnungskonzertes war der aus Galatz/Galaţi gebürtige und in Kronstadt/Braşov aufgewachsene Radu Lupu, der in seinem Heimatland leider allzu selten die musikalische Bühne betritt. Abgeklärt, rein in sich gekehrt, scheinbar entrückt, und doch zugleich voll vitaler Kraft und tief gegründeter Monumentalität, bot er das 4. Klavierkonzert (op. 58) von Ludwig van Beethoven dar. Sein Spiel, das höchster Zurücknahme fähig war und den Wiener Klassiker in manchen Passagen fast als Impressionisten erscheinen ließ, begeisterte die Zuhörer, insbesondere bei den Kadenzen, in denen die sinfonische Ebenbürtigkeit des Soloinstruments mit dem Orchester am deutlichsten zum Ausdruck kam.
Den zweiten Teil des Abends bestritt die Staatskapelle Berlin unter Daniel Barenboim mit einem einzigen Werk: der 2. Sinfonie (op. 63) von Edward Elgar. Die Rezeption von dessen Gesamtwerk ist in gewisser Weise derjenigen Enescus vergleichbar: Man kennt bzw. man hört von dem englischen Komponisten lediglich die Enigma-Variationen und die „Pomp and Circumstance“-Märsche, vielleicht auch noch das Violin- und das Cellokonzert, aber alle anderen seiner Kompositionen scheinen vergessen. Umso eindrücklicher war die Darbietung des viersätzigen, nahezu einstündigen sinfonischen Werkes, das durch reiche Instrumentierung, den raschen Wechsel der Stimmungen und durch eine immense Dynamik, von ekstatischem Aufbäumen zu lethargischem Versinken, von furioser Wildheit zu friedlichem Verhauchen, besticht. Weitere Werke von Edward Elgar werden im Rahmen eines Mitternachtskonzerts der Academy of St. Martin in the Fields am 20. September in Bukarest zu hören sein.
Wer nach diesem reichlich mit Applaus bedachten Eröffnungskonzert noch Kraft zur Aufmerksamkeit hatte, konnte sich unmittelbar danach ins Athenäum begeben, wo unter der Kuppel der Rotunde ein Orgelkonzert den Auftakt zum diesjährigen Enescu-Festival bildete. Der 1981 im amerikanischen Pennsylvania geborene und derzeit in Berlin lebende Cameron Carpenter war der Solist, den man als Nigel Kennedy der Orgelkunst charakterisieren könnte. Im schillernden, popigen Outfit, mit entblößter (und enthaarter) Brust und einer Mischung aus Tonsur und Irokesenschnitt als Frisur betrat er die Bühne und – tanzte: zwar nicht auf dem Parkett, aber auf dem Orgelpedal mit eigens für seine rasanten Pedalsoli entworfenen hochhackigen und mit Glitzerschmuck verbrämten Orgelschuhen. Es gibt weltweit wohl kaum einen Organisten, der sich in der Pedalvirtuosität mit Cameron Carpenter, welcher schon als Kind im Stepptanz exzellierte, wirklich messen könnte.
Gemäß der freien und unkonventionellen Art des Orgelkünstlers war auch das gedruckte Programm schon zu Konzertbeginn Makulatur: Nach der Darbietung des ersten angekündigten Stücks, einer phantasievollen Bearbeitung des Präludiums aus der ersten Cellosuite (BWV 1007) von Johann Sebastian Bach durch den Solisten, verwarf Cameron Carpenter seine schriftlichen Planungen und ging zu mündlicher Direktmoderation per Mikrofon über. Einer virtuos dargebotenen Fuge aus Bachs „Wohltemperiertem Klavier“ folgte eine grandios registrierte und gleichsam postmodern fragmentierte dreisätzige Mozartsonate (KV 284 „Dürnitz“), beeindruckende Orgelvariationen (op. 20) von Marcel Dupré, eine für die Orgel adaptierte Klavieretüde (op. 10 Nr. 4) von Frédéric Chopin, ferner eine Bachsche Triosonate für Orgel (BWV 530), an die sich dann drei Improvisationen anschlossen, „hopefully short“, wie der Solist zuvor schalkhaft anmerkte. Dem zunehmend faszinierten Publikum wurde das Konzert freilich in keinem Moment zu lange, und der Orgelvirtuose konnte das mitternächtliche Musikereignis nach zwei Zugaben – darunter der Chopinsche „Minutenwalzer“ (op. 64 Nr. 1) – nur dadurch zu Ende bringen, dass er den beim Schlussapplaus empfangenen Blumenstrauß als Zeichen seines endgültigen Abschiedes auf die Orgelbank legte.
Der zweite Festivaltag bot weitere interessante Konzertereignisse, darunter das erste Festivalkonzert im Kleinen Saal des Königspalastes, das von einem eigens gebildeten Festivalorchester bestritten wurde, bestehend aus Mitgliedern des Pittsburgh Symphony Orchestra, der Camerata Regală sowie anderer rumänischer Orchester unter der Leitung von Vlad Vizireanu. Nach der Darbietung des ersten Satzes aus der Enescuschen Orchestersuite Nr. 1 (op. 9) brachte der südafrikanische Pianist Ben Schoeman Franz Liszts 1. Klavierkonzert zu Gehör und bedankte sich anschließend beim Publikum für den Applaus mit einer von einem südafrikanischen Komponisten stammenden Jazz-Toccata. Beethovens 7. Sinfonie (op. 92) bildete den Abschluss dieses großartigen Konzertes im kleinen Rahmen.
Den Höhepunkt und Abschluss des zweiten Festivaltages bildete das zweite Konzert mit der Staatskapelle Berlin unter Leitung von Daniel Barenboim, der diesmal nicht nur als Dirigent, sondern auch als Solist auftrat. Sein solistischer Partner bei der Darbietung des Mozartschen Konzerts für zwei Klaviere (KV 365) war Radu Lupu, mit dem Barenboim seit über vierzig Jahren nicht nur künstlerisch zusammenarbeitet, sondern mit dem ihn auch eine persönliche Freundschaft verbindet. Diese Künstlerfreundschaft wurde bei diesem Konzertabend auch spür-, fühl-, sicht- und hörbar, nicht nur bei den drei Sätzen des 10. Klavierkonzerts, sondern auch bei den beiden Zugaben, die ebenfalls aus Mozarts Feder stammten. Die wunderbaren Pianissimi Daniel Barenboims verschmolzen mit den Klangmalereien Radu Lupus zu einem Spiel von vollendeter Harmonie und reiner Perfektion.
Verdis „Quattro pezzi sacri“ (Vier geistliche Stücke), bei denen der Chor der Philharmonie „George Enescu“ (Einstudierung: Iosif Ion Prunner; Sopransolo: Laura Chera) mitwirkte, beschlossen dann den zweiten Festivaltag und markierten zugleich den Abschied von Daniel Barenboim und der Staatskapelle Berlin, die sich mit drei fulminanten Zugaben für den stehenden Applaus und die zahlreichen Bravorufe bedankten. Kaum zu glauben, dass nach diesen grandiosen Auftaktkonzerten das Publikum des Enescu-Festivals immer noch mehr als drei Wochen hochkarätiger musikalischer Ereignisse erwarten!