Die moderne Kunst hat reichlich viele Mythenerzähler, von Picasso bis Barnett Newman. Aber sie hat nur wenige Meistererzähler, und der Belgier René Magritte ist zweifellos einer von ihnen. Seine Bilder sind vor allem Geschichten und dann erst Gemälde, aber sie sind keine Ausschnitte aus dem Leben oder historische Szenen. Es sind Schnappschüsse des Unmöglichen und eigentlich ganz langweilig gemalt, Titelbilder von Sprache und Realität, die ineinander greifen und sich gegenseitig aufheben. Keiner hat wie Magritte diese Art von Puzzlemalerei beherrscht, und sein Einfluss darauf, wie Menschen Bilder und Symbole formen und interpretieren, ist immer noch sehr groß.
1923 zeigte der schweizerisch-französische Architekt Le Corbusier eine Pfeife als Sinnbild eines einfachen funktionalen Designs. Fünf Jahre später malte Magritte seine Antwort auf Le Corbusiers eindimensionalen Rationalismus, „Der Verrat der Bilder“ (1928/29): „Ceci n’est pas une pipe“ (Dies ist keine Pfeife). Aber wenn es keine ist, was ist es dann? „Ein Bild“, antwortet das Bild: ein Zeichen, das einen Gegenstand kennzeichnet und Erinnerungen auslöst. Der Satz „Ceci n’est pas une pipe“ wurde zu einem der Schlüsselsätze der modernen Kunst, ein komprimiertes Manifest über die Sprache und die Art und Weise, wie Bedeutungen durch Symbole vermittelt oder blockiert werden. Noch nie hatte ein Maler so treffend und klar gesagt, dass „ein Bild nicht das ist, was es darstellt“. Corbusiers von Magritte neuerschaffene Pfeife wurde zum Loch im Spiegel der Illusion, ein Durchgang in eine ganz andere Welt hinein, wo die Dinge ihren Namen verlieren. Wenn sie ihn aber behalten, dann ändern sie ihre Bedeutung. Magrittes Skala, seine Gedanken in Bildern sichtbar zu machen, reicht von der Philosophie bis zur Farce.
Zu seinem bevorstehenden 50. Todesjahr zeigt das Centre Pompidou eine beeindruckende Werk-Schau, in der der Denkweise des Künstlers nachgespürt werden soll. Der Betrachter ist aufgefordert, Magrittes Bilder zu hinterfragen, deren Sinn ihm auf den ersten Blick entgeht. Hinterfragen heißt hier aber nicht erklären, sondern mit Gewohnheiten zu brechen, der Poesie eine eigene Realität zuzubilligen. Zudem hat der jeweilige Bildtitel ausreichend befremdende Horizonte zu vermitteln, damit der Betrachter sich Fragen über die Hintergründe der Bildvermittlung stellt. Der Titel muss verstehen lassen, dass die Aussage des Bildes an die Imagination des Betrachters appelliert – und zwar gleichermaßen durch das Gezeigte wie durch das Nichtgezeigte, aber doch Angedeutete.
„Versuch des Unmöglichen“ (1928) heißt das Porträt eines Malers, eine nackte Frau erschaffend. Die nackte Figur im Raum ist künstlich, Magritte belässt sie im Stadium des Entstehens. Zugleich treibt er seinen Spott mit der traditionellen akademischen Ansicht, dass Kunst durch ihren Illusionismus täuschen sollte. „Das rote Modell“ (1935), ein Schuhpaar: Aus den Schuhspitzen sind die Zehen geworden, die sonst in den Schuhen stecken. Nichts bleibt in Magrittes Bildern so, wie wir es uns gewöhnlich denken. Wir sehen die Welt mit neuen Augen und wundern uns über Dinge, über die wir sonst niemals nachdenken würden.
Eine Lokomotive kommt aus dem Kamin eines Esszimmers hervor und rast mit Volldampf auf den Betrachter zu („Die durchbohrte Zeit“, 1935). Beide - Lokomotive und Kamin - miteinander zu verbinden, erschien Magritte viel beunruhigender und geheimnisvoller, als wenn er hier etwas Phantastisches hätte geschehen lassen. Denn das wahre Geheimnis zeigt sich nur in den alltäglichen Dingen. Oder: Eine Kanone steht in einem Raum, dessen Wände aus Fragmenten menschlicher Umwelt zusammengesetzt sind. Müssen wir warten, bis die Kanone schießt, damit die schützenden Mauern der vertrauten Bilder in sich zusammenbrechen und wir, wie der Bildtitel sagt, „An der Schwelle der Freiheit“ (1930) stehen? Ein Gefühl des Entsetzens ruft „Die Vergewaltigung“ (1934), ein aus einem weiblichen Körper bestehendes Porträt, hervor, während sie gleichzeitig komisch wirkt. Das Schamhaar schaut wie der Pelz aus, der Meret Oppenheimers Tassen, Untertassen und Gabeln ziert. Aber es könnte auch der Spitzbart eines Mannes sein. Das Haupthaar wirkt ebenso erschreckend wie auch die Brustwarzen als glotzende Augen, so dass das Ganze an eine Halluzination erinnert.
Es geht Magritte nicht darum, Realität zu leugnen, sondern ihre Bedeutung zu hintertreiben, indem er eine Gegenposition bezieht. Das Bild, das die Realität reproduziert, enthält eine metaphysische Botschaft im Sinne Martin Heideggers. Für den deutschen Philosophen war das „Mysterium“ dem Wahrheitsgehalt inhärent. Für den belgischen Maler sollte das Bild dem Menschen seine Situation innerhalb der wirklichen Welt bewusst machen. Das Verborgene und das Unbekannte wird allen zugänglich, wenn der Maler dem Bewusstsein Assoziationen nahelegt, die imstande sind, beim Betrachter unerwartete und dennoch plausible Ideen zu wecken. Die Schlüssel zum „Mysterium“ liegen also gewissermaßen in der Imagination und deren Nährboden, der das Gedächtnis ebenso umfasst wie die Erinnerungen, die es hervorbringt. Diffusen Impressionen und Gefühlen setzt Magritte eine völlig neue Herangehensweise an die Natur entgegen, als handle es sich um ein Objekt: „Was man an einem Objekt sieht, ist ein anderes, verborgenes Objekt“.
Magrittes Malerei war in vielerlei Hinsicht so innovativ, das ihr eigentlich ein eigener Platz in der Kunstgeschichte gebührt. Es ist nicht damit getan, dass man sie nur in Bereiche wie Romantik, Symbolismus oder Surrealismus einzuordnen versucht.