Kyoko Fujita unterrichtet Komparative Kulturwissenschaften an der Tohoku-Universität in Sendai (Japan) und ist bemüht, seit 1997 – mit finanzieller Unterstützung des Japanischen Kultusministeriums sowie der Japan Society for the Promotion of Science (JSPS) – im Rahmen der Universitätsbibliothek ein Dokumentararchiv zur bukowinischen und rumäniendeutschen Literatur einzurichten. Im November 2009 wurde sie mit einer Dissertation zum Thema „Jüdische deutschsprachige Literatur aus der Bukowina. Lyrik als Ausdruck vielfältiger Marginalisierung“ zum Dr. phil. promoviert. In Japan ist dieses der erste umfangreiche „Erörterungsversuch“ über Rose Ausländer, Alfred Margul-Sperber, Alfred Kittner, Moses Rosenkranz und Paul Celan.
Frau Professor Kyoko Fujita, wie kamen Sie als japanische Literaturwissenschaftlerin ausgerechnet zur deutschsprachigen österreichisch-jüdischen Literatur der Bukowina?
Während meines Studiums, 1978-1988, an der Sophia-Universität in Tokyo sowie an den Universitäten Bochum und Frankfurt a. M. hatte ich mich mit der Literatur im Wien der vorletzten Jahrhundertwende, vor allem mit Hugo von Hofmannsthal befasst. 1988 las ich dann zufällig einen Text über Rose Ausländer. Dabei hörte ich auch zum ersten Mal von „der Bukowina“. Und es wunderte mich, dass dieses ehemalige k. u. k. Kronland damals noch sozusagen „im Hintergrund“ der deutschen Literaturgeschichte stand, während z.B. „Galizien“ relativ gut bekannt war. Auch für mich war Galizien längst ein Begriff – als Heimat von Joseph Roth, Manès Sperber und auch als die Gegend, wo Hofmannsthal einst Soldat war. Celan wurde damals schon als Lyriker in Japan sehr geschätzt. Doch seine Heimat fand, selbst bei der japanischen Celan-Forschung, kaum Beachtung. Ich fing nun an, Materialien über die Bukowina und über Rose Ausländer zu sammeln und kam so auch zu anderen deutschsprachigen Dichterinnen und Dichtern jüdischen Herkunft.
Hätte in diese elitäre Suite deutsch-jüdischer Lyrik, die Sie zuvor nannten, nicht auch Selma Meerbaum-Eisinger gehört?
Die Bukowina hat viele herausragende Namen deutschsprachiger Lyrik hervorgebracht. Zweifellos gehört auch Selma Meerbaum-Eisinger dazu. Ihr Gedichtband „Ich bin in Sehnsucht eingehüllt“ wurde bereits 1986 ins Japanische übersetzt und in der Taschenbuchreihe für Jugendliteratur des Iwanami Verlags – einem der angesehensten Verlagshäuser Japans – herausgebracht. Die Dichterin ist bei uns als „Anne Frank des Ostens“ vorgestellt worden und ihre empfindsame Lyrik wird besonders von Jugendlichen gern gelesen. In meinem Buch beschränkte ich mich aber absichtlich auf die fünf zuvor genannten Namen, denn ich wollte von dieser Literaturlandschaft marginal auch ein geschichtliches Bild vermitteln. Celan wurde nämlich erst 1920 geboren, doch die anderen Vier waren bereits in der Zwischenkriegszeit publizistisch tätig gewesen und veröffentlichten schon in den 1930er Jahren eigene Gedichtbände in Czernowitz.
Nach dem Zweiten Weltkrieg mussten alle ihre Heimat verlassen, und danach setzten sie sich in ihren „Einwanderungsorten“ mit eigenen sozialen Problemen, persönlichen Erlebnissen sowie mit neuen dichterischen Anregungen auseinander, so dass ihr literarisches Wirken nach dem Zweiten Weltkrieg sehr vielfältig wurde. Diese Vielfalt aber, dachte ich, müsste durch gemeinsame Elemente, z.B. durch kollektive Erlebnisse begründet sein. Um das Entstehen, das Fast-Zerstört-werden und die Überlebensbestrebungen dieser deutschsprachigen Literaturlandschaft mit ihrer Vielfalt sowie ihrer gemeinsamen Grundlage darzustellen, habe ich mich auf jene fünf Namen konzentriert.
In Ihrer Danksagung erwähnen Sie „die Marginalisierung“, mit der diese deutschsprachige Dichtung aus der Bukowina „dauernd konfrontiert wurde“. Könnten Sie uns darüber Näheres sagen?
Wie bereits angedeutet, mussten diese Dichter sehr lange im „Hinterhof“ der Literaturgeschichte ausharren. Alfred Kittner sprach einmal von der „paradoxe(n) Lage“ dieser Literatur, nämlich vom „Entstehen einer im wahrsten Sinne modernen deutschen Dichtung unter rumänischer Herrschaft“. Denn nach dem Ersten Weltkrieg spielten die jüdischen Einwohner der Bukowina – als Träger der deutschsprachigen Literatur – eine Hauptrolle; gleichzeitig aber wurden sie als ethnische Minderheit durch die nationalistische Rumänisierungspolitik marginalisiert. Außerdem wurde ihre Zugehörigkeit zur deutschen Kultur von den deutschen Volksgruppen, die bereits unter dem Einfluss des Nationalsozialismus standen, vehement abgelehnt, obwohl dieses Bewusstsein bei den deutschsprachig geprägten Juden den Kern ihrer Identität ausmachte. Dann folgten die Deportationen nach Transnistrien. Und nach Kriegsende wurden die Überlebenden in alle Himmelsrichtungen zerstreut und versuchten nun – wieder als Minderheit in einem „Einwanderungsland“ – ihre literarische Tätigkeit fortzusetzen. In den deutschsprachigen Ländern Westeuropas wurden sie daher lange Zeit von der Kritik nicht wahrgenommen. Nur Celan war bereits seit dem Erscheinen seines vielbeachteten Poems „Todesfuge“ (1952) bekannt, doch über seine Herkunft wusste man bis Ende der 1970er Jahre so gut wie nichts.
Das Ergebnis Ihrer langjährigen Forschungen liegt nun in japanischer Sprache als Buch vor. Es ist ein beeindruckendes Werk mit 476 Seiten, einer umfangreichen Bibliographie, deutschen Textbeispielen und zwei Bukowina-Karten. Wie wurde diese Arbeit von der Fachwelt in Ihrem Land aufgenommen?
Seit dem Erscheinen meines Buches 2014 bekam ich sehr positive Rezensionen. Zuerst von japanischen Judaisten. Prof. Naruhiko Nishi von der Ritsumeikan-Universität – ein bekannter Komparatist, der sich mit polnisch-jiddischer Literatur befasst, kommentierte es sorgfältig. Dabei äußerte er sich z.B. sehr positiv über meinen Versuch, sowohl Alfred Kittner als auch Paul Celan und die anderen vier unter dem Aspekt der polnisch-jiddischen Literatur vor ihrem gemeinsamen geschichtlichen Hintergrund in dieser Literaturlandschaft zu erörtern. Im Dezember erschien eine acht Seiten lange Rezension von Prof. Haruyuki Kuroda von der Matsuyama-Universität in der Fachzeitschrift „Port“ der „Japan Society for Jewish Studies in Kobe“. Dann folgten noch Besprechungen von bekannten Celan-Forscherinnen und -Forschern, wie Prof. Asako Nakamura von der Sophia-Universität und Prof. Hiroaki Sekiguchi von der Meiji-Universität, in den Fachzeitschriften der „Gesellschaft für österreichische Literatur in Japan“ und der „Japanischen Gesellschaft für Germanistinnen“. Die beiden Rezensenten stuften meine Arbeit im Allgemeinen sehr hoch ein, aber Fachleute der Celan-Forschung neigen auch dazu, andere Dichter der Bukowina zu unterschätzen, z.B. als „literaturgeschichtlich nicht so bedeutend“ zu bezeichnen. So werde ich weiterhin diese Sichtweise in Frage stellen, um eine differenzierte Betrachtung anzuregen.
Der deutsche Verleger und Publizist Helmut Braun, Herausgeber des Gesamtwerkes von Rose Ausländer und Nachlassverwalter vermittelte Ihnen unveröffentlichte Materialien, wie z.B. den Briefwechsel zwischen Rose Ausländer und dem Dichter Peter Jokostra. Wie beurteilen Sie diese Korrespondenz zwischen einer Bukowiner Jüdin und einem Deutschen, der ab 1941 NS-Kriegsdienst geleistet hat und bis zur Winterschlacht bei Moskau, 1942, nach Osten mitmarschiert ist?
Ich habe über Jokostra nur sehr wenige Kenntnisse und habe nur die Briefe der Dichterin aus den Jahren 1964-1967 gelesen. Im November 1964 übersiedelte sie von New York nach Wien, weil sie als Dichterin in einem „muttersprachlichen Milieu“ leben wollte. Im März 1965 zog sie aber nach Düsseldorf um, obwohl in Wien ihr zweiter Gedichtband, „Blinder Sommer“, 16 Jahre nach ihrem Erstling, erschienen war. In diesen vier Jahren versuchte sie, in den deutschsprachigen Ländern einen „Existenzort“ zu finden. Jokostra gehörte zu den wenigen Menschen, zu denen sie in der Isolation Kontakt hatte, und das war für sie sehr wichtig. Am 18. November 1964 schrieb sie an Jokostra: „Momentan heißt meine Heimatlosigkeit: Wien“. Diese Worte lassen uns ihre bittere Enttäuschung erkennen. Damals verfasste Rose Ausländer für eine von Jokostra geplante Anthologie einen Prosatext, „Der Fluch II“, der ihr kompliziertes Gefühl zu Wien und zur Heimatlosigkeit widerspiegelt. Insofern ist der Briefwechsel für das Verständnis der Dichterin unentbehrlich.
Professor Masaru Aihara von der Technischen Hochschule in Nagaoka ist einer der führenden Paul- Celan-Forscher Japans. Inwieweit haben Sie bei Ihrem Buchprojekt mit ihm zusammengearbeitet?
Prof. Aihara war bis 2011 geschäftsführendes Vorstandsmitglied der „Japanischen Paul Celan-Gesellschaft“, die auf seine Initiative von ihm 1999 gegründet wurde und 2012 ihre Tätigkeiten einstellen musste. In den 14 Jahren erschien die Fachzeitschrift „Celan-Studien“ mit 14 Bänden, und darin wurden sehr viele Abhandlungen, Dokumente, Berichte sowie Bibliografien über Celan veröffentlicht. Prof. Aihara übersetzte 1996 zusammen mit Prof. Kita von der Chuo-Universität das Buch „Paul Celan. Eine Biografie seiner Jugend“ von Israel Chalfen ins Japanische und wies auf die Bukowina als wichtigen Hintergrund des Dichters hin. Von ihm erhielt ich Kopien wertvoller Materialien aus dem Literaturarchiv Marbach.
Außer der Bukarester Monatsschrift „Neue Literatur“ – in der sozialistischen Ära eine führende deutschsprachige Publikation außerhalb der deutschsprachigen Länder – stand Ihnen auch, durch Vermittlung des Bukarester Germanisten Prof. Dr. George Guţu, verschiedenes Archivmaterial zur Verfügung. Woher kamen die wichtigsten Anregungen?
Wichtige Teile des Überblicks über diese deutschsprachige Literatur und wertvolle Anregungen zu meiner Forschung verdanke ich unter anderem der 1994 erschienenen Anthologie „Versunkene Dichtung der Bukowina“, die von Alfred Kittner und Amy Colin herausgegeben wurde. Um mich über die Tätigkeiten Alfred Margul-Sperbers sowie Alfred Kittners im damaligen Rumänien zu informieren, war mir die Bukarester Zeitschrift „Neue Literatur“ unentbehrlich. Und schließlich dank Ihrer freundlichen Hilfe, Herr Dr. Stephani, besitzt nun unsere Universitätsbibliothek alle Nummern dieser wichtigen Publikation. Ich glaube, die NL ist für alle an diesem Themenbereich Interessierten in Japan eine wertvolle Grundlage. Was Margul-Sperbers Anthologieprojekt betrifft, verdanke ich Prof. Dr . George Guţu von der Universität Bukarest sehr viel. Er berichtete 1997 über die Manuskripte dieser Anthologie, die sich im Bukarester Muzeul Literaturii Române befinden. Ich durfte erst 2008 die betreffenden Manuskripte einsehen und seine korrigierten Angaben bestätigen. Dabei stellte mir Professor Guţu die digitalisierten Dateien der Manuskripte, die er für das Erscheinen im nächsten Jahr vorbereitet hatte, zur Verfügung, so dass ich schnell und korrekt die Manuskripte verzeichnen konnte.
Darf man nach Ihren Zukunftsplänen fragen?
Die bukowinische Literatur mit der späteren rumäniendeutschen Literatur in einen „vergleichenden Zusammenhang“ zu bringen, das könnte eine nächste Aufgabe in meiner weiteren Forschungsarbeit sein. Denn ich glaube, dass es in jenen Landschaften noch viele unbekannte literarische Worte und Werte gibt.
Frau Prof. Fujita, vielen Dank für dieses Gespräch.