Unter dem Verfasserpseudonym Pascal Mercier verbirgt sich der 1944 in Bern geborene Schweizer Philosoph Peter Bieri, der an den Universitäten Heidelberg, Marburg und Berlin (FU) lehrte, bevor er sich 2007 enttäuscht aus dem akademischen Betrieb zurückzog. Als Schriftsteller bekannt wurde Pascal Mercier vor allem durch seinen Bestseller „Nachtzug nach Lissabon“ (2004), der unter dem Titel „Night Train to Lisbon“ von Bille August verfilmt und 2013 auf der Berlinale erstmals gezeigt wurde.
Zu Beginn dieses Jahres ist Pascal Merciers vierter Roman „Das Gewicht der Worte“ erschienen, der in gewisser Weise an seinen Debütroman „Perlmanns Schweigen“ aus dem Jahre 1995 anknüpft. War es dort um einen Linguistikprofessor gegangen, der an der Sprachwissenschaft verzweifelt und sich stattdessen lieber am Reichtum aller Sprachen ergötzt – Philipp Perlmann schlägt sogar einen Ruf nach Princeton aus, um als Deutschlehrer nach Managua zu gehen! –, so ist die Hauptfigur des soeben erschienenen Romans, der polyglotte Übersetzer Simon Leyland, bereits tief in dieses weite Feld der Vielsprachigkeit vorgedrungen. Er beherrscht sämtliche Sprachen, die um das Mittelmeer herum gesprochen werden (das Baskische, Maltesische und Albanische eingeschlossen), und darüber hinaus noch etliche andere Fremdsprachen wie das Russische oder das Deutsche. Die Protagonisten der zwei Romane sind beide Witwer, die nach wie vor um ihre längst verstorbenen Ehefrauen trauern, beide durchleben sie eine mid-life bzw. late-life crisis, beide suchen sie einen Neuanfang in ihrer Existenz, in der ihnen alles bekannt vorkommt und schon einmal da gewesen scheint.
Doch zunächst einmal zur Handlung des Romans „Das Gewicht der Worte“! Der Übersetzer Simon Leyland hat nach dem Tod seiner Ehefrau ihren Triester Literaturverlag übernommen und mit Erfolg weitergeführt. Eines Tages wird er mit der ärztlichen Diagnose konfrontiert, er leide an einem unheilbaren Gehirntumor und habe nur noch wenige Wochen zu leben. Er verkauft daraufhin seinen Verlag, nimmt Abschied von seinen Kindern Sophia und Sidney wie auch von all seinen Freunden und Bekannten, bevor er erfährt, dass die ihm gestellte medizinische Diagnose auf einem Irrtum beruht. Simons Röntgenbilder wurden versehentlich verwechselt, er ist tatsächlich kerngesund, woraufhin Simon beschließt, in seine englische Heimat zurückzukehren. Er zieht in London in das Haus ein, das er von seinem Onkel, einem Professor für orientalische Sprachen geerbt hat, macht neue Bekanntschaften, betätigt sich als Sponsor und Mäzen, überwindet die ihn bedrohende Langeweile und wird am Ende, der doch bislang nur übersetzte und nicht eigenständig schuf, zum Schriftsteller, der das Gewicht der Worte nun auf ganz neue Weise schätzen lernt.
Dass Wörter und Worte das Lebenselixier für Simons Existenz ausmachen, ist in Pascal Merciers Roman von Anfang an deutlich. Unmittelbar nach der Aufdeckung der ihn lähmenden Fehldiagnose erlebt er in sich die Wiedergeburt der Sprache: „Die Worte, sie kamen, sie kamen einfach, er bildete andere Sätze, kompliziertere, keiner konnte kompliziert genug sein, er redete in allen Sprachen, die er konnte, er konnte es nicht erwarten, die nächste auch noch auszuprobieren, er machte den angefangenen Satz in einer anderen Sprache fertig, nur um gleich den nächsten zu beginnen.“ (S. 78) Reflexionen über Worte und Fremdworte, über den Klang und den Charakter von Wörtern in mehreren Sprachen, über Probleme beim Übersetzen von Wörtern und Sätzen nehmen in Pascal Merciers Roman einen großen Raum ein, ja der Autor kann sich sogar über viele Seiten hinweg mit der Frage auseinandersetzen, ob ein Komma, das im Originaltext vorkommt, in der Übersetzung erhalten werden muss oder nicht. Wer sich also dem Phänomen der Sprache in dieser feinsinnigen, sensiblen und detailverliebten Weise zu nähern gewohnt ist, wird bei der Lektüre des Romans in jedem Fall auf seine Kosten kommen.
Interessant ist auch, wie das Kompositionsprinzip, das der angehende Schriftsteller Simon Leyland gegen Ende des Romans sukzessive entwickelt, exakt mit der literarischen Struktur übereinstimmt, die Pascal Merciers Roman von Anfang an realisiert. Handlungsmomente sind mit Reflexionen und Erinnerungen durchsetzt, und die Briefe, die Simon an seine verstorbene Frau Livia schreibt, kehren als Formelement in dem Roman wieder, den Simon in Pascal Merciers Roman zu verfassen beginnt. Auch hier also ein höchst reflektiertes, subtiles und intellektuell durchdachtes Vorgehen, das den Lesegenuss zu erhöhen vermag. Gedanken über das Phänomen der Zeit, die den Philosophen Peter Bieri auch in seiner universitären Lehre und Forschung beschäftigt haben, finden sich im Roman „Das Gewicht der Worte“ ebenso wie Reflexionen über das Problem der Erinnerung, das im Zentrum des Romans „Perlmanns Schweigen“ von Pascal Mercier steht.
Vieles ließe sich noch über einen derart umfangreichen Roman sagen. Man könnte die darin gezeichneten Figuren näher betrachten, etwa Simons Nachbarn Kenneth, seinen Freund Andrej, seinen Lieblingskellner Patrick, seine Kinder Sophia und Sidney, das Personal des Triester Verlags. Man könnte den Spiegelungen der Figuren nachgehen, wie etwa Simons Mäzenatentum in der Hauptfigur des Romans von Francesca Marchese wiederkehrt. Man könnte den Sprachspekulationen nachspüren, die Pascal Merciers Roman durchherrschen, oder sich mit der Frage nach der Heimat auseinandersetzen, die Simon, statt in seiner Heimatstadt Oxford oder in seiner Wahlheimat Triest, vielmehr in seiner Liebe seines Lebens Livia und noch mehr in der Sprache bzw. in den Sprachen selbst findet.
Ebenso interessant ist aber die Frage, warum dieser Roman, der doch intellektuell den höchsten Ansprüchen genügt, der doch kulturell ein äußerst breites Spektrum entfaltet und der doch sprachlich von größter Virtuosität ist, von den wichtigsten deutschsprachigen Feuilletons derart verrissen und in Grund und Boden gestampft wurde, was umso verwunderlicher ist, als das Feinsinnige, Sensible, Reflektierte, Filigrane und Intellektuelle doch Werte sind, die in der deutschen Kultur- und Bücherwelt durchaus hoch gehalten werden. Pascal Mercier lässt übrigens in seinem Roman eine solche Kritikergestalt auftreten, „der in der Zeitung regelmäßig über mich und meine Übersetzungen herzieht“ (S. 419), wie Simon seiner Tochter gegenüber anlässlich einer zufälligen Begegnung mit jenem Neil McKenna in der Londoner U-Bahn bekennt. Ganz am Ende des Romans entschuldigt sich der ewige Kritiker freilich bei Simon: „Ich weiß, ich habe manch böses Wort über Sie geschrieben, und nicht alles war begründet. Ich hoffe, Sie haben es nicht zu schwer genommen.“ (S. 558)
Jens Jessen kritisiert in der ZEIT die „monumentale Biederkeit“ des Romans, seine überraschungslose Gleichförmigkeit, seine Tendenz zur Wiederholung, seinen idyllischen Grundzug, die jeglicher Spannung abholde Langeweile, das „salbungsvolle Achtsamkeitsgerede“ und die „betuliche Innerlichkeit“, verleiht ihm jedoch auch das Prädikat „solide wirkendes Qualitätsprodukt“, vor dem die Deutungsmacht des nervösen und abgebrühten Kritikers letztlich versagen müsse, wie der Rezensent selbstironisch hinzufügt. Wolfgang Höbel wirft dem Roman im SPIEGEL vor, er schwadroniere nur von der Sprache, könne aber der Wortohnmacht, an der er leide, weder Einhalt gebieten noch die Tiefe seiner „Wortskrupelei“ ausloten. Und Franziska Augstein tadelt in der „Süddeutschen Zeitung“ die holprigen Übertragungen des als glanzvollen Übersetzer dargestellten Simon Leyland und kritisiert, dass Simons Briefe an Livia die Erzählhandlung des Romans nachträglich „erklären wie für Idioten“. Die Selbstbeweihräucherung des Erzählers, der seine eigenen sprachlichen Einfälle lobt, wird von der Journalistin genauso moniert wie der Egozentrismus seines Protagonisten. Vielleicht stacheln diese Kritikeräußerungen ja die Neugierde der geneigten Leserschaft an, sich mit diesem in jeder Hinsicht bemerkenswerten neuesten Roman von Pascal Mercier selbst und auf eigene Faust auseinanderzusetzen.
Pascal Mercier, Das Gewicht der Worte. Roman, Carl Hanser Verlag: München 2020, 573 S., ISBN 978-3-446-26569-1, 26 Euro.