Ein Mann, 1902 in Michelsberg/Cisnădioara geboren, damals noch Österreich-Ungarn, liegt 43 Jahre später auf den Gleisen im Schnee. Gewehrschüsse knallen. Doch der Zug hält nicht an. Lukas Hann ist gerettet! Der Güterwaggon, aus dem sich der junge Siebenbürger Sachse Anfang Januar 1945 retten konnte, fuhr ohne ihn weiter nach Russland. Lukas Hann war der Deportation entronnen.
Hann richtet sich auf, marschiert in die dunkle Nacht hinein. Immer nach Süden, in Richtung Focșani – warum war Focșani so wichtig? Dort wollte er sich verstecken, dort wohnte die Schwester seiner Frau, Hedwig, mit einem Fotografen aus Temeswar verheiratet, der dort ein hochmodernes Fotostudio betrieb. Wenn es ihm gelänge, unbemerkt zu Hedwig und Jakob Braun zu gelangen, wäre er vorerst gerettet. Noch Jahre später erzählt er seinem bereits erwachsenen Jungen schmunzelnd, nie habe er in seinem ganzen Leben so viel Weißwein getrunken wie dort, im Keller des Schwagers, wo er sich wochenlang versteckt hielt, bevor er es wagte, zu seiner Frau und dem vierjährigen Söhnchen nach Bukarest heimzukehren...
Was hat Horst Peter Hann bewegt, diese Geschichte nach so vielen Jahren aufzuschreiben? Der Titel „Zwei Generationen – zwei Fluchten“ lässt es erahnen: Auch ihm, dem Sohn von Lukas Hann, ist eine abenteuerliche Flucht gelungen. Nicht etwa aus dem kommunistischen Rumänien, wie man jetzt vermuten könnte, denn Horst Peter Hann lebt seit 1993 in Stuttgart und besuchte Rumänien nur noch gelegentlich beruflich. Ein freies, demokratisches Rumänien auf dem Weg nach Europa, mit wissenschaftlichen Kollaborationen im Westen, so auch mit der Uni Tübingen, an der Hann als Geologe lehrte und forschte. Wer hätte unter diesen Umständen gedacht, dass sich auf seltsame Weise in einem Abstand von 50 Jahren und ausgerechnet dort ein Familienschicksal wiederholen würde? Eine unrechtmäßige Freiheitsberaubung, ein gewagter Plan und schließlich eine abenteuerliche Flucht, wenn auch unter völlig anderen Vorzeichen... Parallelen sind dennoch unverkennbar.
Juristische Willkür im nachkommunistischen Rumänien
1996, ein Jahr nach der Flucht von Horst Peter Hann aus Rumänien, wird einer seiner ehemaligen Kommilitonen, der Professor für Mineralogie und später Rektor an der Uni Bukarest, Präsident von Rumänien: Emil Constantinescu.
Dem zwei Jahre älteren Studienfreund gelingt es, die Umstände endlich aufzuklären, die dazu geführt hatten, dass Hann 1995 auf einer Forschungsreise nach Rumänien strafverfolgt wurde und dann monatelang das Land nicht verlassen durfte, ohne den Grund dafür zu erfahren. Sämtliche Bemühungen des zweifachen verwitweten Familienvaters, der dringend zu seinen Töchtern, der betagten Mutter und seiner Stelle an der Uni zurück musste, waren im Sande verlaufen. Da sah er sich gezwungen, einen gewagten Plan in die Tat umzusetzen...
Constantinescu versicherte Hann also jetzt, er könne jederzeit gefahrlos nach Rumänien zurückkehren. Immerhin war dem Land mit seinem Fall ein ziemlicher Image-Schaden entstanden. Doch dem saß die Angst noch zu tief im Nacken, denn – „jetzt der Hammer“, so Hann – der Staatsanwalt, der seine Akte behandelt hatte – war „mein ‘Freund’ Alexandru Țuculeanu“ – gerade zum stellvertretenden Generalstaatsanwalt Rumäniens ernannt worden! „Mir aber ging ein rumänisches Sprichwort nicht aus dem Sinn: Bis du zum lieben Gott gelangst, fressen dich die Heiligen.“
Țuculeanu wurde übrigens erst 2006 abgesetzt, herabgestuft und zwangspensioniert - ein Jahr vor dem EU-Beitritt Rumäniens! „Man erinnerte sich dann auch, dass er nicht nur während der ‘Mineriaden’, sondern auch vorher schon an der Verhaftung und sogar Folterung von Ceaușescu-Gegnern beteiligt gewesen war.“ Er ist zwar nie im Gefängnis gelandet, aber das Schicksal hat ihn dennoch bestraft, frohlockt der Autor am Ende des Büchleins, wo sich die Geschichte seiner Verfolgung schließlich restlos aufklärt.
Lesevergnügen auf mehreren Ebenen
Die gewichtige Lektüre lockern amüsante Anekdoten auf, etwa die von der Flasche Schnaps – eine weitere Vater-Sohn-Parallele – die für den Ersteren die Chance zum Sprung vom Deportiertenzug eingeläutet hatte, für den Letzteren bei der Ausreise nach Deutschland die Rettung war, als dessen 88-jährige Mutter auf einem eisigen Bahnhof heftig zu zittern begann; sofort erinnerte er sich an das Abschiedsgeschenk eines Kollegen. „Allerdings hatte ich kein Glas dabei. Sie musste also auf einem Bahnhof öffentlich direkt aus der Flasche Schnaps trinken – eine Klosterschulen-Dame wie sie!“ Es hat ihr nicht geschadet: Helene Hann wurde stolze 97, lebte zuletzt im Altenheim der Siebenbürger Sachsen in Gundelsheim, „wo sie übrigens ihre alten Freundinnen aus Hermannstadt wieder getroffen hat“.
Lesenswert ist das knapp 79 Seiten umfassende Büchlein nicht nur wegen der juristischen Willkür und der geheimdienstlichen Wirren der Nachwendezeit, denen Hann zum Opfer gefallen war. Sondern auch, weil es ihm gelingt, sowohl die eigene wie auch die Geschichte seines Vaters knapp und verständlich in den jeweiligen historischen Rahmen einzuordnen. So wird für den Leser, der Rumäniens Geschichte verstehen möchte, der Plot zum roten Faden, der durch markante Wendungen führt - weit ausholend mit der Einwanderung der Siebenbürger Sachsen bis zu den Hintergründen der Mineriaden, wo auch Hanns Peiniger eine unrühmliche Rolle spielte: „Am 14. Juni 1990 trafen etwa 7000 Kumpel mit Sonderzügen in Bukarest ein. Sie bildeten mit Knüppeln und Stangen bewaffnete Gruppen, die von Securitate-Leuten geführt wurden. Sie schlugen auf Gegendemonstranten ein, zerstörten die Sitze der neugegründeten bürgerlichen Parteien und übernahmen praktisch die Macht in der Hauptstadt.“ Nach einer derartigen Aktion würde man erwarten, dass die Schuldigen rasch bestraft werden, fährt der Autor fort. „Aller-dings wurden die Haftbefehle gegen die von den Bergleuten Verprügelten oder Verletzten (...) ausgestellt und nicht gegen diejenigen, die es getan hatten!“ Einer der fünf Staatsanwälte, die das zu verantworten hatten, war: Alexandru Țuculeanu.
Zum Autor
Horst Peter Hann ist 1941 in Bukarest geboren und in Hermannstadt/Sibiu aufgewachsen, wo der das Brukenthal-Lyzeum besuchte. Seine Eltern, die katholische Klosterschülerin Helene Kirschner aus Craiova und der evangelische Siebenbürger Lukas Hann, der in Innsbruck Medizin zu studieren begonnen hatte, dann aber wegen der Weltwirtschaftskrise zurückkehren musste, lebten anfangs in Bukarest, wo eine größere deutsche Gemeinde existierte. Der Großvater Emil Kirschner - in Kronstadt geboren, seine Eltern stammten aus dem Banat – war Bildhauer und Stuckateur und arbeitete in Bukarest eine zeitlang mit dem bekannten Bildhauer Frederic Storck zusammen.
Horst Peter Hann studierte in Bukarest Geologie, wo er auch promovierte. Nach seiner Tätigkeit im Geologischen Institut Bukarest wanderte er 1993 nach Deutschland aus und wirkte dort 20 Jahre lang als Dozent und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Tübingen.
Neben „Zwei Generationen – zwei Fluchten“, Verlagshaus Schlosser, Pliening, 2022. ISBN 978-3-96200-689-1 sind von Horst Peter Hann außerdem erschienen: „Gesteinsbestimmungen. Grundlagen und Praxis“, ein reich bebildertes Grundlagenbuch für Studenten und an Gesteinskunde Interessierten (Quelle &Meyer Verlag Wiebelsheim, 534 Seiten, ISBN 978-3-494-01966-6) sowie im Deutschen Jahrbuch 2024 der Beitrag „Onkel Emil – eine wahre Geschichte“.