Bereits vor der Veröffentlichung ihres zweiten Romans – der erste, „Baba Rada. Das Leben ist vergänglich wie die Kopfhaare“, erschien 2011 – konnte Dana Grigorcea die Kritiker von ihrer Fabulierkunst durch den gekonnten Vortrag einiger Auszüge aus „Das primäre Gefühl der Schuldlosigkeit“ überzeugen. „Der Text ist witzig, sehr gut gelesen, hat einen gewissen Twist, den man nicht auf den ersten Blick erkennt, dadurch wird er zu einer herrlichen Satire in drei Etappen“, lobte Hubert Winkels als einer der Juroren. Des Weiteren sprach er in diesem Zusammenhang auch von einer „Medienverunglückungsgeschichte“, denn in den Episoden aus der jüngere Geschichte Rumäniens, erzählt aus der Perspektive einer jungen, nach Bukarest heimgekehrten Frau, brechen sich Wahrheit und Lüge, Versprechen und enttäuschte Erwartung.
So wird der falsche „Farbfernseher“ des Hausfreunds der Familie, dessen Farbe lediglich aus einer dreifarbig aufgeklebten Folie besteht, zu einem Objekt der Begierde. Besonders beeindruckt fanden sich die Kritiker von einer Szene, die den spektakulär verunglückten Auftritt des frenetisch bejubelten Michael Jackson nur drei Jahre nach der Hinrichtung des Diktators Ceausescu, ausgerechnet auf dem Balkon des ehemaligen „Palast des Volkes“ ins rechte Licht rückt. Hildegard Elisabeth Keller, die Dana Grigorcea nach Klagenfurt eingeladen hatte, bescheinigt ihrem Text, dass er „sprüht vor Vitalität, ist bitterböse und traurig zugleich“ und außerdem „von brennender Aktualität für Rumänien, für die Schweiz, für Europa, für die Zeltstadt in Krumpendorf, für die gesamte Welt“.
Soviel Lob für einen „Trailer“ lässt den mediengewohnten Konsumenten nun gleichzeitig hoffen und fürchten. Hoffen, dass der Roman hält, was der Trailer verspricht, und fürchten, dass nicht die angekündigte Komödie – wie häufig in der Welt von Hollywood – sich als ein veritables Trauerspiel entpuppt.
Das Erscheinungsdatum Ende Juli wurde vielleicht mit Bedacht gewählt, denn die Rahmenhandlung spielt im sommerlichen Bukarest, die flimmernde Hitze und der bald vertraute bisweilen sogar als toxisch beschriebene Lindenduft der Baumalleen zieht sich durch das Buch wie ein roter Faden. Eine „Heimkehrergeschichte“ nennt Keller diesen Roman. Einschränkend möchte man hinzufügen – aber eine fiktive, denn Dana Grigorcea selbst lebt im Gegensatz zu ihrer Hauptfigur Victoria mit ihrer Familie nach wie vor in Zürich. Die eben erst von dort heimgekehrte Victoria hingegen lässt die Autorin in der wohl glamourösesten Bank Bukarests, der CEC-Zentrale auf der Calea Victoriei, arbeiten, wo sie prompt Zeugin eines Banküberfalls wird. Besagter Bankräuber wird dem Leser noch mehrfach in unterschiedlichen Rollen begegnen. Fürsorglich, um sich von diesem angeblichen Schockerlebnis zu erholen, gewährt ihr die Bank Urlaub und eine wöchentliche Therapiesitzung ausgerechnet bei Madame Miclescu, der Mutter ihres verflossenen Liebhabers Dinu, dem „Kascadeur“. Die Zwangspause nutzt Victoria, um „ das Administrative für die meiner Familie rückerstatteten Häuser, Wälder und Weinberge zu regeln“ (S.19).
Gleichzeitig sieht Victoria sich nun zunehmend mit ihrer Vergangenheit konfrontiert: alten Freunden und Geschichten, die bisweilen tragisch enden, wie die der im Kommunismus in ihrem Haus einquartierten Nachbarn, deren Sohn Codrin, spöttisch von ihr „Caesar“ genannt, dennoch ein Jugendfreund bleibt. Vor allem erzählt sie Flavian, ihrem Freund, der zwar ihren gesellschaftlichen Hintergrund, nicht jedoch ihre Vergangenheit mit ihr teilt, Geschichten von ehemaligen Liebhabern oder von „ganz früher“, der Zeit ihrer mondänen Großmutter Memé, aber auch von der kommunistischen Zeit von „früher, unter den Schurken“, wie die Zeit in den Erzählungen von Flavians „Damen“ (seiner Mutter und Großmutter) kurz genannt wird.
Flavian nutzt die durch den Bankraub entstandene Situation, um sich bei Victoria, d. h. in ihrem alten Elternhaus im Cotroceni-Viertel, aber auch zunehmend in ihrem Alltag einzuquartieren. Nebenbei streift Victoria nun erstmals wieder durch altbekannte Straßen „ihres Bukarest“, nur ganz vereinzelt verirrt sie sich in unbekannte Viertel. Dass darunter hauptsächlich das alte mondäne Bukarest zu verstehen ist – neben dem Cotroceni-Viertel sind es die alten baumbestandenen Alleen und Boulevards bis zur Pia]a Roman² –, macht sie mehrfach deutlich. In einem Dialog mit ihrer Therapeutin gestehen sich beide, dass sie noch nie beim Obor-Markt waren. „Wir lachen, mein und ihr Bukarest sind wahrscheinlich deckungsgleich.“ (S. 161) Nicht ignorieren lassen sich vom Cotroceni-Viertel aus die überdimensionalen Bauten der Ceauşescu-Ära auf dem heutigen Parlamentshügel und der darauf zulaufende Boulevard der Vereinigung, und hier spielen sich auch einige entscheidende Szenen des Romans ab, die eben deshalb auch für die Lesung im Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb ausgewählt wurden.
Es gibt kleine, aber nicht unbedeutende Unterschiede zwischen dem in Klagenfurt vorgelesenen Text und dem in Kürze erscheinenden Roman. „Das primäre Gefühl der Schuldlosigkeit“ , so steht es im prämierten Text und ist gleichzeitig der Titel des Buches. Er bezieht sich auf die nach der Wende geborenen Kinder. Konkret wird hier die Enkelin eines ehemaligen kommunistischen Ministerpräsidenten angesprochen. Eine Bekannte von Flavian, mit der sie touristisch den Parlamentspalast durchstreifen soll – und die „dennoch keine Schuld auf sich geladen hat und dieses primäre Gefühl der Schuldlosigkeit vor sich herträgt“, was entfernt an den Ausspruch Helmut Kohls über die „ Gnade der späten Geburt“ erinnert. Im Roman wird an dieser Stelle (S. 213) jedoch vom „arroganten Gefühl“ gesprochen und vom Hohn, dass diese Nachfahrin kommunistischer Herrscher auch noch den typischen „Revolutionsnamen“ Victoria trägt, ärgerlicherweise ebenso wie die bereits zehn Jahre ältere Protagonistin des Romans.
Nostalgie und Bitterkeit verschränken sich in den eingefügten skurrilen Anekdoten, die zudem oft eine unerwartete Wendung nehmen. Nichts ist so, wie es auf den ersten Blick scheint. Selbst die Gefühle Victorias zu Flavian oder zu den ehemaligen Jugendfreunden, besonders zu Dinu, bleiben bis zum Schluss durchaus zweideutig.