Die Stadt trägt die Burg in ihrem Namen: Temeswar, als Abwandlung des ungarischen Temesvár (vár = Burg) ist das mittelalterliche Temeschburg. Rechtzeitig zum heute rumänischen Timișoara als Kulturhauptstadt Europas 2023 legen die promovierten Historiker und Kenner Südosteuropas, das Autorenduo Konrad Gündisch und Tobias Weger, eine „Kleine Stadtgeschichte“ vor. Dieses „Klein“ erweist sich bei dem kompakten Buch in Pocketgröße als enormer Vorteil, zeichnet es sich nicht nur inhaltlich und mit Sprachklarheit aus, sondern auch konzeptuell. Der Chronologie der Epochen folgend werden neben historischen Daten, sozio-kultureller und wirtschaftlicher Entwicklungen zudem entsprechend gekennzeichnete Hintergründe eingeflochten, um das städtische Bild im jeweiligen zeithistorischen Kontext einordnen zu können. Das Buch reicht über eine kompakte Ortsmonographie hinaus. Zur geografischen Zuordnung der textbezogenen Örtlichkeiten verhelfen ein grober Übersichtsplan der Innenstadt und ein Register der Baudenkmäler, Plätze und Straßen, die mit exemplarischen Grafiken, historischen Ansichtskarten und Fotos veranschaulicht werden. Diesem Buch folgend sieht man die Stadt mit anderen Augen.
Diese „Kleine Stadtgeschichte“ beinhaltet auch Themen, die selbst in ausführlichen deutschen Sachbüchern stiefmütterlich behandelt worden sind. Die Historiker griffen dafür auf Urkundensammlungen, Archäologieberichte sowie Sekundärliteratur neusten Datums zurück und schufen ein gesamtheitliches Stadtbild nach aktuellem internationalen Erkenntnisstand.
Treffsicher haben die beiden Autoren signifikante Ereignisse und Daten selektiert, um viele Phasen der Prosperität dieser Stadt in der Grenzregion von Hegemonialmächten, später zweier regionaler Königreiche und schließlich der Ost-West-Blöcke greifbar werden zu lassen, um das poliglotte und multireligiöse Temeswar von heute zu verstehen. War es früher als Festungsstadt von militärischer Bedeutung, so wurde dieses regionale Zentrum in der „Belle Époque“ wegen seiner Stadtarchitektur als „Klein Wien“ bezeichnet. Heute ist Temeswar in seiner sozio-kulturellen Vielfalt ein Europa im Kleinen. Wie es dazu kam, steht, knapp verfasst und dennoch auch für Ortsfremde sehr gut verständlich, in diesem Buch.
Ein Appetizer: Die „Kleine Stadtgeschichte“ macht neugierig auf die gesamte Region und damit auf die „Kleine Geschichte des Banats“ von Dr. Irina Marin, zeitgleich ebenfalls im Verlag Friedrich Pustet erschienen. Beide Bücher erfuhren fachliche Unterstützung vom IKGS – Institut für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas an der LMU München.
„Im 18. und 19. Jahrhundert war das Banat eine Art alternatives Amerika für mehrere Wellen von Siedlern“. Mit pointierter Schreibweise und Nutzung von Stilelementen des literarischen Journalismus‘ erleichtert Irina Marin einer breiten Leserschaft den Zugang zur extrem dynamischen Geschichte einer Grenzregion, deren wesentliche Konstante die variierende Vielfalt war und ist – multiethnisch mit diversen religiösen Riten zwar, aber immer wieder durch „neue Formen von Zusammenleben“ gekennzeichnet.
Der wissenschaftliche Beitrag der Autorin in dieser Publikation ist vermutlich ihrer Promotion in London und dem Lehrauftrag an der Universität Utrecht (NL) zu verdanken: Irina Marin greift zwar im Regelfall auf Sekundärliteratur zurück, ergänzt aber die bisher gängigen Quellen aus Rumänien, Ungarn und dem deutschsprachigen Raum mit Studien in englischer und französischer Sprache. Dabei berücksichtigt sie nicht „nur“ verstärkt die westeuropäische Wahrnehmung der sozialhistorischen Entwicklungen in Mittel- und Osteuropa. Vielmehr werden sie gelegentlich im Kontrast zur lokalen Perspektive dargestellt. Ferner berücksichtigt sie verstärkt auch serbische Quellen, die ihr in englischen Übersetzungen zugänglich waren. (Dieser Thematik hat sich das IKGS in seiner jüngsten Halbjahresschrift „Spiegelungen“ 2.22 gewidmet und Archive in Kroatien und Neusatz/Novi Sad auf deutsche Bezüge kultureller und sprachlicher Art beleuchtet, um deren Berücksichtigung in zukünftigen Fachpublikationen zu erleichtern.)
Hegemonialmächte führten Schlachten und handelten Friedensverträge aus, bauten ihre Administration auf und trieben Steuern ein, errichteten Befestigungsanlagen und verbreiteten ihre staatstragende Religion. Irina Marin stellt aber die Menschen in den Mittelpunkt ihrer „Kleinen Geschichte des Banats“, wie z.B. die massive Flüchtlingswelle aus Serbischem Kernland Ende des 17. Jahrhunderts: „Diese entwurzelten Menschen bewegten sich mit der Grenze, oft dienten sie (...) auch als Grenzwächter, folgten den christlichen Eroberungen ins osmanische Gebiet (...), ließen sich im habsburgischen Banat nieder (...) und widerstanden (...) dem Druck des Katholizismus.“
Es waren die Osmanen, die, eingerahmt von den Grenzflüssen Mieresch, Theiß und Donau, die Verwaltungseinheit Banat mit ihrem Zentrum „Teme{var“ schufen. In nachfolgenden Kapiteln geht die Autorin auf identitätsstiftende Entwicklungen ein, berücksichtigt Glaube und Sprache sowie damit verbunden unterschiedliche Rechte und Pflichten, die je nach administrativer Zuordnung variieren. Das Banat gehörte anfangs als Kronland zum Wiener Hof, wird kurzzeitig sogar von Belgrad aus verwaltet, war aber langfristig Ungarisches Komitat, um nach dem Ersten Weltkrieg Rumänien angegliedert zu werden. Immer wieder flicht Irina Marin Zeitzeugenberichte ein und nimmt – unter Beibehaltung akademischer Genauigkeit – Leser geschickt mit auf den Weg, der zunehmend ein eigenartiger Banater Weg wird und der 1918 kurzzeitig in einer Banater Republik gipfelte. Bei der Lektüre stellt man sich unwillkürlich die Frage: Was wäre gewesen, wenn sich vor über hundert Jahren – umgeben von Nationalstaaten – das Banater Modell interethnischer Toleranz bewährt hätte?
Sich mit einer solchen Fragestellung zu beschäftigen ist keine hinfällige Theorie. Seit über zehn Jahren betreibt die EU eine Politik für ein Europa der Regionen, die in eigens dafür aufgelegten Programmen gestärkt werden. Ein Teil des Banats liegt heute außerhalb der EU in Serbien und das dortige Neusatz trug 2022 den EU-Titel Kulturhauptstadt Europas, obwohl gar nicht Teil der EU. 2023 ist Temeswar an der Reihe. Identitätsstiftende Regionen können jenseits ihrer Ethnien und Glaubensgemeinschaften ein starkes Gegenmittel für militanten Nationalismus sein. Irina Marin hat ein klug konzipiertes Geschichtsbuch verfasst, das in mehrerlei Hinsicht lesenswert ist – absolut passend herausgegeben zum Anlass Temeswar Kulturhauptstadt Europas 2023.
Liebhabern historischer Romane sei gesagt: Lest das Original! Zwar kommen in Fachaufsätzen von Geschichtswissenschaftlern keine Zauberer vor, dafür wird man aber mit einem Prinzen Eugen konfrontiert, der mit einem kleineren Heer die Osmanen zudem in der befestigten Stellung zu Belgrad besiegt hat – ganz ohne Magie, aber mit kreativer Kriegstaktik. Ein mächtiger Internuntius des Vatikans und ein diplomatisch versierter Graf verhandelten bei Passarowitz den Friedensvertrag im Auftrag des Kaisers. Das Gedankengut eines fortschrittlichen Merkantilismus wurde in einem vorerst geheimen, zusätzlichen Handelsabkommen durchgesetzt. Solche Fachaufsätze sind bis in die explikativen Fußnoten interessant, ja fast spannend zu lesen und verhelfen die Ursprünge der prosperierenden Region Banat besser zu verstehen.
Dieses Fachbuch wurde von der Kommission für Geschichte und Kultur der Deutschen in Südosteuropa in Kooperation mit weiteren vier akademischen Instituten herausgegeben. Der vorliegende Band 12 aus der Reihe „Danubiana Carpathica“ wurde von Dr. Harald Heppner betreut. Er weist in seiner Einleitung auf vier Paradoxa bei Merkmalen der Prosperität und deren zur Schaustellung hin, die sich quer durch die unterschiedlichen Beiträge aufzeigen. Sie waren nicht nur dem Banat, sondern, trotz zeitlicher Verschiebungen, dem gesamten Donau-Karpatenraum eigen und veranlassen die Leserschaft selbst zu breit angelegten Vergleichen. Breitgefächert sind sie wegen der unterschiedlichen Regionen, aber auch wegen der Berücksichtigung der jeweiligen Religionsgemeinschaften und Ethnien.
Klar ist, dass die beiden vorgenannten Bücher notwendigerweise das Attribut „klein“ im Titel führen. Allumfassende Werke zur Geschichtsschreibung kann es kaum geben, da einschlägige, gut fundierte Fachbücher insgesamt Regale füllen. Die vorliegende thematische Anthologie gehört zweifelsfrei dazu.