Alles was er könne, sei lesen und schreiben, und weil er nicht im Stande sei, etwas zu erfinden, könne er bloß über das schreiben, was ihm, seiner Familie, seinen Kindern geschehe, so resümierte der namhafte russische Schriftsteller Michail Pawlowitsch Schischkin seine Beziehung zur Literatur. Am 31. Mai traf er sich in der Aula Magna der West-Universität mit dem Temeswarer Publikum, für eineinhalb Stunden stellte sich der in der Schweiz lebende und im Osten wie im Westen genauso gefeierte Schischkin den Fragen des Publizisten Cristian Pătrășconiu. Die schwierige Aufgabe des Dolmetschens übernahm gekonnt Antoaneta Olteanu, Professorin für Russisch an der Bukarester Universität und Übersetzerin aller Schischkin-Bücher ins Rumänische.
Der rumänischen Leserschaft spätestens seit der 2012 unter dem Titel „Scrisorar“ erfolgten Veröffentlichung seines Romans „Pismovnik“ bekannt, genießt Schischkin inzwischen ein hohes Ansehen. Er gilt als einer, der die Tradition der großen russischen Literatur fortsetzt, er wird in einer Reihe mit Meistererzählern wie Tschechow, Bunin oder Nabokov genannt. Nach Temeswar kam Schischkin als Gast des „Skyline“-Vereins, der um den Internationalen Tag des Kindes das zweite Temeswarer Festival der Drachen organisiert hatte. Hauptpartner und -sponsor der Veranstaltung war die Anwaltskanzlei „Bercea & Asociații“.
Vor seiner Temeswarer Leserschaft entwickelte Schischkin eine kleine Theorie des künstlerischen Schaffens, er unterschied zwischen dem gesunden und dem krankhaften Schreiben, wobei die letztere Art nur zum schnellen Geldverdienen benutzt werde. Er aber suche die Antwort auf die alles bestimmende Frage des Todes, jeder Roman von ihm sei eine andere Antwort auf diese Frage und eine absolute Darstellung des Autors in der Zeit, in der er dieses oder jenes Buch geschrieben hat. Während seiner Jugend in der Sowjetunion habe man ihn verpflichtet, die Bücher des ZK-Generalsekretärs Leonid Breschnew zu lesen, er aber verschlang die Erzählungen des von der stalinistischen Justiz mehrmals verurteilten Warlam Schalamow, diese bedeuteten für ihn das Leben und ermöglichten ihm eine mentale Flucht aus der erstarrten sowjetischen Gesellschaft unter Breschnew. So habe er gelernt, dass Wörter große Feinde sind, weil sie tot seien und der Schriftsteller sie immer wieder zu neuem Leben bringen müsse, setzte Schischkin fort. Außerdem sei das Wort eigentlich ein Verräter, man könne ihm nicht vertrauen, warnte der Schriftsteller, der für seine Werke mehrere Preise bekommen hat, darunter den russischen Booker-Prize und den Internationalen Literaturpreis des Hauses der Kulturen der Welt in Berlin.
Zu den gegenwärtigen Entwicklungen in der Gesellschaft sagte der russische Autor, man habe das Unglück, in einer Zeit zu leben, die nicht jene der Schriftsteller sei, sondern der Journalisten, die heute töten müssen, was sie gestern geschrieben haben. Der Schriftsteller dagegen bewege sich in einer fortlebenden Gegenwart; das, was er heute schreibe, sei morgen nicht tot, sondern es bleibe lebendig. Andererseits sei er sich inzwischen im Klaren, dass die Literatur die Welt nicht ändern könne. Die große russische Literatur Tolstois und Dostojewskis, Gogols oder Tschechows habe Stalins Schauprozesse und den Gulag nicht verhindern können, genauso wie Goethe, Schiller oder die Manns machtlos gegenüber Hitler waren. Die Literatur konnte also die unvorstellbaren Greueltaten des vorigen Jahrhunderts nicht verhindern, sie war aber eine Hilfe, sie habe geholfen, den Gulag zu überleben. Sie rette zwar nicht die Welt, jedoch den einzelnen Menschen. In der Sowjetunion habe er gelernt, dass sein Körper dem Staat gehöre, seine Gedanken aber nur ihm. Seine Seele konnte dank der Literatur frei atmen. Und er habe dann verstanden, dass man zwar dem Gulag nicht dafür zu danken habe, dass das menschenverachtende sowjetische System eine so großartige Literatur hervorgebracht habe. Vielleicht, sagte Schischkin, wäre es besser gewesen, keinen Gulag und keine großartige Literatur gehabt zu haben, dafür aber eine Demokratie.
Schischkin glaubt, dass die Literatur sich mehr auf den Leser stützen muss als auf den Schriftsteller, der sie geschaffen hat. Auch wenn das dann zur Folge habe, dass zum Beispiel ukrainische Neofaschisten erklären, sie würden seine Bücher lieben. Das widere ihn an, er müsse jedoch damit leben, schlussfolgerte der russische Schriftsteller.
Auf den gegenwärtigen russischen Präsidenten angesprochen, sagte Schischkin, Wladimir Putin sei nur ein Schauspieler in einem Stück, das in Russland seit Generationen gespielt werde. Putin spiele den Zaren, die Rolle sei natürlich die wichtigste. Jeder, der den Zaren spielt, bietet etwas Neues, bleibt jedoch Sklave dieser Rolle. Selbst der größte und aufrichtigste Demokrat, der diese Rolle bekäme, würde am Ende zu einer Art Putin, glaubt Schischkin. Also müsse man nicht die Schauspieler austauschen, sondern das Stück, was jedoch natürlich viel schwieriger sei. Insofern war dann Schischkins Antwort auf die letzte Frage, die er von Cristian Pătrășconiu bekam, durchaus vorhersehbar: Zwischen Thomas Manns „Buddenbrooks“ und Tschechows „Kirschgarten“ entschied er sich für letzteren.