„Halten wir es mit den europäischen Gesetzen oder unserem Brauchtum?“ Frei nach Heinrich von Kleists 200 Jahre alter Komödie „Der zerbrochene Krug“ und mit spöttelndem Zungenschlag stellt sich Schauspieler Marius Turdeanu in der Rolle des Dorfrichters Adam nicht nur dem auf der Bühne ranghöheren Beamten Daniel Plier, der in schwarzem Mantel und feinem Zwirn den Gerichtsrat Walter interpretiert, sondern auch dem Publikum des Radu-Stanca-Theaters Hermannstadt/Sibiu (TNRS) als ausdauernder Wendehals gegenüber. Armin Petras, seines Zeichens Theatermacher aus der Bundesrepublik Deutschland und erklärter Fan Rumäniens, ist der Autor jener zweisprachigen Inszenierung des sprachübergreifend bekannten Lustspiels, dessen Premiere am 12. und 13. Dezember stattfand und stürmischen Applaus einheimste. Textautor Heinrich von Kleist (1777-1811) hatte ein vermeintliches Schattendasein abseits der vielzitierten Literaturepochen der Weimarer Klassik und der deutschen Romantik geführt und erst nach Lebzeiten zu wahrhaft anerkannter Größe gefunden. Letztere hält bis heute ungebrochen an. Nicht von ungefähr stößt Kleists Dorfkomödie in Sachen unsauberer Rechtsprechung stets auf sozialpolitische Entsprechung.
Hier die Pflicht, dort das Vergnügen. Regisseur Dominic Friedel (Mannheim) und Armin Petras sind sich der Verschiedenheit ein und desselben Europas von Ort zu Ort bewusst. Silvana Prodan, Emöke Boldizsár und Claudia Maior haben Kleists Komödie erneut in die rumänische Sprache übertragen und Armin Petras, der sich die Freiheit nimmt, der Originalbesetzung weitere Personen hinzuzufügen, in der Anpassung des humoristischen Librettos an osteuropäische Gegebenheiten beraten. Im Vorfeld der Premiere mag man als Kenner des Originalwerks neugierig geworden sein zu erfahren, mit welcher Strenge die Theatervorstellung unter dem rumänischen Titel „Urciorul sfărâmat“ sich an der Synopsis des deutschen Urtextes orientiert. Kleist konnte seinerzeit die sozialen und geopolitischen Streitfragen in Europa zu Beginn des 21. Jahrhunderts bestimmt nicht voraussehen. Trotzdem sind die allgemein gültigen Personenmuster seines Lustspiels „Der zerbrochene Krug“ auch in der Gegenwart und Öffentlichkeit unserer Tage derart verblüffend häufig anzutreffen, dass korrupte Richter und von europäischen Gnaden sich erweichende Chefbeamte inmitten des kosmopolitischen Chaos gar nicht mehr als eventuelle Gefahrenpotenziale erkannt werden, was im rumänischen Alltag oft zu erleben ist. Auf der Bühne des Hermannstädter Radu-Stanca-Theaters bietet die simultan auf Deutsch und Rumänisch gespielte Inszenierung stichhaltige Kostproben berüchtigter rumänischer Gelassenheit, doch gehen die Ensemblemitglieder mit einem ausgeprägten Sinn für die humoristische Geißelung regionaler wie nationaler Missstände ans Werk.
Pali Vecsei, der baumlange Schauspieler der rumänischen Abteilung des Theaters, fügt sich geschickt in die Rolle des Schreibers Licht, der stillschweigend einen Schulterschluss mit dem Gerichtsrat Walter eingeht, aber das unlautere Ziel verfolgt, seinen Vorgesetzten zu übertreffen, um nachher selbst das Amt des Dorfrichters auszuüben. Simona Negrilă tritt als Zeugin Frau Brigitte auf, Raluca Iani als Grete. Cristina Juks, Gastschauspielerin der deutschen Abteilung am Radu-Stanca-Theater, spielt eine narzisstische Dame, während Rodica Mărgărit in der Nebenrolle der Köchin wortlos, aber in authentischer Hausfrauenmanier zum Erfolg der Inszenierung beiträgt. Fabiola Petri tritt als Eve Rull auf, deren Mutter Marthe Rull von Diana Văcaru-Lazăr verkörpert wird. Die vergeblichen Versuche Marthes, eine angemessene Entschädigung für ihren zerbrochenen Krug zu erkämpfen, wirken auf den Zuschauer sehr eindringlich. Diana Văcaru-Lazăr bewältigt ihre Aufgabe mit souveräner Routine und steigert sich auf der Höhe der Verstrickungen singend in die Handlung der Komödie hinein: Ihre stimmlich beeindruckende Fähigkeit der astreinen Wiedergabe eines Klagegesangs in rumänischem Folklore-Stil veredelt diese Inszenierung des „Zerbrochenen Kruges“.
Emöke Boldizsár gibt den Charakter der Person Liese wieder. Ihre Affinität zur ungarischen Sprache stellt sie in Begleitung der Musikformation des Hermannstädter Folklore-Vereins „Cindrelul – Junii Sibiului“ im pfeffrigen Intermezzo „Az a szép“ unter Beweis. Als ein Gitarre spielender und Zigarre rauchender Interpret des Liebhabers Leberecht trägt Vlad Robaș sein Scherflein zum krachenden Erfolg des Lustspiels bei. Die cholerischen Anfälle des Ruprecht Tümpel führt Florin Coșuleț meisterhaft aus. Adrian Matioc schlüpft in die Haut des Vaters Veit Tümpel, dessen Bruder von Eduard Pătrașcu gespielt wird. Viorel Rață übt die Nebenrolle des Pförtners aus, Iustinian Turcu stellt den Sohn des Dorfrichters Adam dar.
Eine Besonderheit der Inszenierung sind die mehrmaligen Auftritte der Tanz- und Musikformationen des Vereins „Cindrelui – Junii Sibiului“, die nicht nur auf die Zuschauer Eindruck machen, sondern auch auf Gerichtsrat Walter aus Luxemburg, dargestellt von Daniel Plier, der sich in seinem Bestreben, die Gerichtsakten genau zu prüfen, besänftigen lässt und begeistert sein Smartphone zückt, um vor den Augen des Publikums den heißen Tanz der rumänischen Volkstanzgruppe zu filmen.
Auch offenbart sich der Schlussapplaus als ein wichtiges Element der Inszenierung: Dorfrichter Adam, der den zerbrochenen Krug persönlich auf dem Gewissen hat, sich nicht dauerhaft herauslügen konnte und entlarvt wird, darf zwecks Zuschauerbeifall nicht gemeinsam mit den anderen Schauspielern und Beteiligten der Vorstellung in einer Reihe stehen. Marius Turdeanu trifft in der Inszenierung „Urciorul sfărâmat“ am Radu-Stanca-Theater das Los desjenigen Straffälligen, dem das Baden im Applaus des Publikums untersagt bleibt. Anstandslos befolgt er die entsprechende Anweisung Armin Petras´ und Dominic Friedels – eine Zurückhaltung, die von den wenigsten rumänischen führenden Politikern zu erwarten wäre.