Königin Elisabeth von Rumänien, im Jahre 1843 als Prinzessin zu Wied geboren, seit 1869 mit dem späteren König Karl I. von Rumänien verheiratet und 1916 in Bukarest gestorben, ist auch als ‚dichtende Königin’ unter ihrem sprechenden Künstlernamen Carmen Sylva (Waldgesang) bekannt. Nicht nur als Herrschergattin, nicht nur als Gönnerin der Künste, sondern auch durch ihre eigene Arbeit als Schriftstellerin und Übersetzerin hat sie sich um die deutsch-rumänischen Kulturbeziehungen verdient gemacht und als Vermittlerin der deutschen Kultur in Rumänien wie auch der rumänischen Kultur in Deutschland exemplarisch gewirkt.
Im Stuttgarter ibidem-Verlag erscheinen seit einigen Jahren lesenswerte sekundärliterarische Werke über sowie primärliterarische Werke von Carmen Sylva. So kann man sich beispielsweise in einer ins Deutsche übersetzten und im ibidem-Verlag publizierten Biografie Carmen Sylvas aus der Feder des rumänischen Historikers Gabriel Badea-Paun anhand von internationalen Quellen über diese beeindruckende Gestalt der jüngeren Geschichte informieren. Eine Studie von Silvia Irina Zimmermann über die dichtende Königin, ihre Selbstmythisierung und ihre prodynastische Öffentlichkeitsarbeit durch Literatur setzt sich mit der durchaus modern zu nennenden Schreibstrategie Carmen Sylvas literaturwissenschaftlich auseinander.
Silvia Irina Zimmermann, 1970 in Hermannstadt/Sibiu geboren, 2003 an der Universität Marburg promoviert und Gründungsmitglied der 2012 ins Leben gerufenen „Forschungsstelle Carmen Sylva Fürstlich Wiedisches Archiv“, fungiert außerdem als Herausgeberin zahlreicher literarischer Werke der Gattin König Karls I. von Rumänien. Bislang erschienen, ebenfalls im ibidem-Verlag, unter dem Titel „Gedanken einer Königin – Les pensées d’une reine“ gesammelte Aphorismen in deutscher und französischer Sprache sowie Epigramme Carmen Sylvas, ferner eine zweibändige Anthologie mit Märchen und Geschichten für Kinder und Jugendliche, ebenfalls aus der Feder Königin Elisabeths. Sowohl von der Aphorismen- als auch von der Märchensammlung gibt es im ibidem-Verlag außerdem schlankere Versionen mit den Titeln „Gedanken einer Königin“ und „Pelesch-Märchen“. Zu letzterer Märchenedition hat die Herausgeberin Silvia Irina Zimmermann auch eine eigene, 2011 erschienene wissenschaftliche Studie mit dem Titel „Der Zauber des fernen Königreichs“ beigesteuert.
Der rumänische Dichter Vasile Alecsandri, der selbst als ein bedeutender Sammler rumänischer Volksdichtung gilt, war es, der Carmen Sylva zur vertieften Auseinandersetzung mit der rumänischen Kultur und Literatur anregte: zunächst zur Übertragung rumänischer Dichtungen ins Deutsche, dann auch zur Abfassung eigener Märchen und Geschichten mit Rumänienbezug. Die Pelesch-Märchen wurden 1882 zunächst in rumänischer Übersetzung als Prämienbuch an rumänische Schulkinder verteilt, bevor im Jahr darauf der Originalband in deutscher Sprache unter dem Titel „Aus Carmen Sylva’s Königreich. Pelesch-Märchen“ erschien.
Carmen Sylvas Pelesch-Märchen beziehen ihren Namen von dem im Bucegi-Gebirge entspringenden Waldbach Peleş, nach dem auch das in den Jahren 1873 bis 1883 erbaute und unweit von Sinaia gelegene Schloss Pele{ benannt ist. Die Pelesch-Märchen sind keine Übersetzungen oder Nacherzählungen rumänischer Volksmärchen oder Sagen, wie zunächst irrtümlicherweise angenommen wurde, sondern eigenständige literarische Schöpfungen der dichtenden Königin. Ihrer Gattung nach kann man sie als Kunstmärchen bezeichnen, in die mitunter auch sagen- und legendenhafte Züge eingewoben sind. Charakteristisch ist ihr ätiologischer Grundzug: die Herkunft von Ortsnamen oder lokalen Bezeichnungen werden in diesen Geschichten und durch sie erklärt, erläutert, begründet oder anschaulich hergeleitet.
Eines der Märchen mit dem Titel „Vîrful cu dor“ (Der Sehnsuchtsgipfel) legt beispielsweise dar, wie der besagte Gipfel des Bucegi-Massivs zu seinem Namen gekommen ist. Das Bauernmädchen Irina fordert ihren Verehrer, den hübschen Hirten Ionel, zu einer Mutprobe heraus, damit dieser dadurch seine Liebe zu ihr unter Beweis stelle. Er solle im nahenden Winter nicht mit seinen Schafen in die Bărăgan-Steppe oder in die Dobrudscha ziehen, sondern einsam in den rauen Gefilden der Karpaten überwintern. Ionel schlägt die Warnungen der anderen Hirten in den Wind und beginnt alleine den Aufstieg in eisige Höhen. Dort begegnet er drei wunderschönen Frauengestalten in schneeweißen Gewändern, die ihn zu verlocken trachten und die, nachdem ihnen dies nicht gelingt, Ionel verfluchen. Nach dem Eintritt in den Schneepalast und nach der Begegnung mit einer Wassernixe, die seiner Geliebten bis aufs Haar gleicht, verkehrt sich Ionels anfängliche Treue und Zuneigung zu Irina allmählich in Hass und Verachtung. Es reift in ihm der Entschluss, im Frühjahr voller Hohn von Irina auf Nimmerwiedersehen Abschied zu nehmen. In diesem Moment verfällt er der Felsenfrau, einer Sehnsuchtsgestalt, die ihn mit ihren steinernen Lippen küsst und ihn fortan nicht mehr loslässt. Als er schließlich im warmen Frühlingslicht seine Herde nahen sieht, sinkt er entseelt zu Boden, und seine herzueilenden Hunde lecken nur noch Hände und Antlitz eines Toten. „Sie begruben ihn“, so schließt das traurige Märchen, „wo sie ihn gefunden, und nannten den Berg Sehnsuchtsgipfel, vîrf cu dor; ich war schon oft oben und habe sein Grab gesehen, und die Schafe weiden noch immer dort.“
Auch die anderen Pelesch-Märchen berichten von Orten und Gegenden im Bucegi-Massiv: „Furnica (Die Ameise)“, „Piatra Arsă (Der verbrannte Stein)“, „Die Jipi“, „Der Caraiman“, „Die Grotte der Jalomitza“, „Omul (Der Mann)“, „Das Hirschtal“, „Die Hexenburg“, „Der Hundegipfel“, „Valea Rea (Das Böse Tal)“ lauten die Titel jener ätiologischen Kunstmärchen, während die Geschichte „Der Ceahleu (Tschachlau)“ auf eine andere Region Rumäniens weist und mit folgenden Worten anhebt: „In der Moldau steht ein mächtiger Berg, fast so hoch wie der Bucegi, der heißt der Ceahleu; er erscheint sogar höher als der Bucegi, weil er ohne Vorberge gerade aus dem Tal emporsteigt und seinen schneegekrönten Gipfel leuchten lässt, als ein Wahrzeichen rumänischen Heldentums.“
Aufgrund ihrer besonderen Sprache und ihres spezifischen Lokalbezugs sind Carmen Sylvas Pelesch-Märchen für die unterschiedlichsten Lesergruppen gleichermaßen interessant: für Kinder, Jugendliche und Erwachsene, für Deutsche und Rumänen, für Karpatenwanderer, Heimat- und Naturverbundene, Literaturinteressierte sowie für Freunde jeder Art von Kulturbegegnung.