Die Stuttgarter Staatsgalerie zeigt derzeit und noch bis zum 24. Februar 2019 in zwei miteinander in Verbindung stehenden Ausstellungen insgesamt 109 Werke von Wilhelm Lehmbruck: 33 Plastiken, ein Gemälde und 75 Arbeiten auf Papier. Anlass für die Kombination dieser beiden Ausstellungen ist der aktuelle Ankauf von drei Plastiken sowie von 69 Druckgrafiken und Zeichnungen Wilhelm Lehmbrucks aus Privatbesitz, die sich schon seit über einem halben Jahrhundert als Leihgaben in der Sammlung der Staatsgalerie befinden. Die Stuttgarter Staatsgalerie besitzt nun – nach dem Lehmbruck-Museum in Duisburg – die meisten Werke dieses bedeutenden deutschen Bildhauers, Zeichners und Druckgrafikers.
Die Stuttgarter Schau der 33 ästhetisch mustergültig präsentierten und lichttechnisch gekonnt in Szene gesetzten Plastiken, die im Barth-Flügel der Staatsgalerie zu bewundern ist, trägt den Titel „Variation und Vollendung“, während die 75 Zeichnungen und Druckgrafiken, die im Graphik-Kabinett der Staatsgalerie zu sehen sind, unter der Überschrift „Die Bedeutung der Linie“ ausgestellt werden. Letzterer Titel könnte durchaus auch als gemeinsames Motto über beiden Ausstellungen stehen, denn die Linie ist nicht nur ein wichtiges Element in Wilhelm Lehmbrucks Druckgrafiken, insbesondere in seinen Kaltnadelradierungen, in denen der Künstler mittels sensibler und nuancenreicher Linienführung ein Maximum an Ausdruckskraft erreicht; vielmehr ist die Linie auch ein augenfälliges Charakteristikum von Wilhelm Lehmbrucks Plastiken selbst, nicht nur der dynamisch bewegten, sondern auch und gerade der statisch scheinbar in sich ruhenden.
Das kann man zum Beispiel an der monumentalen Gipsplastik „Die große Sinnende“ aus dem Jahr 1913 vorzüglich studieren, die beherrschend als Blickfang im ersten Ausstellungsraum die Lehmbruck-Schau eröffnet. Die über zwei Meter hohe Frauenfigur aus getöntem Gips besticht durch ihre klaren Konturen und ihre perfekte Linienführung, wobei ihre Körperhaltung die Linienbetontheit der Plastik gleichsam ins Geometrische steigert. Der auf Taillenhöhe hinter dem Rücken der Figur zur rechten Armbeuge geführte linke Unterarm bildet zusammen mit dem Nacken, den Schultern und den beiden Oberarmen ein Quadrat, das in den kugelförmigen Brüsten und in der triangulären Scham weitere geometrische Korrespondenzen findet. Die Linien des Stand- bzw. des Spielbeins mit dem durchgedrückten bzw. leicht angewinkelten Knie nehmen Bezug auf die klaren Konturen des langen Halses, die in dem für viele Plastiken Lehmbrucks charakteristischen leicht seitwärts geneigten Kopf zur figuralen Vollendung kommen. Man könnte hier assoziativ Bezüge zu Oskar Schlemmers etwa zeitgleich entstandenem „Triadischen Ballett“ herstellen und spielerisch-imaginativ den Versuch unternehmen, die Lehmbrucksche Plastik gedanklich ver-suchsweise in eine Schlemmersche Ballettfigur zu transponieren!
Durch die gelungene – und in der Ausstellung auch anderweitig verwendete – Idee, hinter der Plastik „Die große Sinnende“ einen Spiegel zu platzieren, kann der Betrachter die Vorder- und die Rückfront der Plastik simultan erleben und zugleich die anderen Werke des ersten Ausstellungsraumes in dieses Spiegelspiel mit einbeziehen: den 1914 in Paris entstandenen „Torso der großen Sinnenden“, zwei Pariser Frauenbüsten „Die Büste der Frau L.“ aus dem Jahre 1910 und zwei Kopfskulpturen aus dem Umkreis der genannten Großplastik.
Die Dynamik der Linie zeigt sich auf eminente Weise in der rötlich getönten und polierten Stuckskulptur „Sitzendes Mädchen“ aus dem Jahre 1913, die zugleich in einer Bronzeversion aus demselben Jahr im zweiten Ausstellungsraum gezeigt wird. Der kraftvolle Schwung der Linie scheint anatomische Gesetze außer Kraft zu setzen. Der aus linkem Bein, Rücken und Kopf gebildete dynamische Bogen findet sein statisches Widerlager in den beiden durchgedrückten Armen sowie in den beiden Schenkeln des rechten Beines der sitzenden Mädchenfigur: Spannung und Lösung, Druck und Entladung, Rückhalt und freies Schwingen bilden so eine wunderbare Einheit, die man mit einem Wort Hölderlins als „harmonische Entgegensetzung“ bezeichnen könnte. Das 1921 von der Staatsgalerie erworbene Werk wurde im Jahre 1937 von den Nationalsozialisten als „entartet“ eingestuft und beschlagnahmt. Erst über sechzig Jahre später konnte die grandiose Kleinplastik als Akt der Wiedergutmachung von der Staatsgalerie wieder erworben werden.
Der Einfluss des Dritten Reiches auf die Rezeption des Oeuvres von Wilhelm Lehmbruck lässt sich auch an anderen Plastiken studieren. Der berühmte Steinguss „Emporsteigender Jüngling“ aus dem Jahre 1913 beispielsweise wurde von den Nationalsozialisten gleichfalls als „entartet“ stigmatisiert. Weil die Großplastik offenbar ihrer Fragilität wegen nicht in die Münchner Ausstellung „Entartete Kunst“, mit der das Hitler-Regime die gesamte Kunst der Moderne polemisch zu verunglimpfen unternahm, transportiert werden konnte, wurde sie anderwärts ausgelagert und gegen Ende des Zweiten Weltkriegs schwer beschädigt. 1963 wurde sie dann restauriert und auf die beiden Betonsockel gestellt, auf denen sie auch in der gegenwärtigen Stuttgarter Ausstellung steht.
Das Berliner Exemplar der „Knienden“, eine Plastik von Wilhelm Lehmbruck aus dem Jahre 1911, ist so schwer zerstört, dass die in der Stuttgarter Ausstellung zu sehenden Überreste eher an Jahrtausende alte archäologische Fundstücke erinnern denn an ein modernes Kunstwerk, von dem man gleichwohl durch ein Foto aus dem ehemaligen Berliner Kronprinzenpalais, wo die Plastik im dortigen Lehmbruck-Saal ihre Wirkung entfalten konnte, einen bleibenden Eindruck gewinnt.
Zu weiteren Highlights dieser besonderen Schau von Lehmbruck-Plastiken zählen etwa der „Torso der Schreitenden“ (auch: „Mädchen, sich umwendend“) aus den Jahren 1913/1914 aus rötlichem Gips (daneben ist außerdem eine Steinguss-Version zu sehen) oder auch weitere Skulpturen aus dem Umkreis des „Emporsteigenden Jünglings“, so mehrere Kopfporträts.
Die Überleitung zur Ausstellung mit den Papierarbeiten Wilhelm Lehmbrucks im Graphik-Kabinett der Staatsgalerie bildet die pazifistische Monumentalplastik „Der Gestürzte“ (Zementguss) aus dem Jahre 1915, die dort zentral den Raum beherrscht und damit sinnbildlich noch einmal die Bedeutung der Linie im Gesamtwerk Lehmbrucks eindrücklich vor Augen führt. Nicht wenige der 75 Exponate des Graphik-Kabinetts nehmen auf die plastischen Arbeiten des Künstlers Bezug, etwa das kleinformatige Werk „Emporsteigender Mann“ (Pinsel, Sepia) aus dem Jahre 1913 oder eine Skizze zum „Gestürzten“ (Kohle auf Büttenpapier) aus demselben Jahr.
Andere Zeichnungen und Druckgrafiken machen darüber hinaus deutlich, dass Wilhelm Lehmbruck seine Arbeiten auf Papier auch als eigenständiges Medium mit spezifischen Ausdrucksqualitäten verstand. Die Radierung „Frau, sich erdolchend“ aus dem Jahre 1918 beispielsweise besticht durch die archaisch-expressive Geste des druckgrafisch realisierten Halbakts und macht zudem die Nähe des Lehmbruckschen Oeuvres zum künstlerischen Schaffen eines Constantin Brâncu{i oder eines Amedeo Modigliani sinnfällig. Letztlich könnte man die beiden kombinierten Stuttgarter Lehmbruck-Ausstellungen – neben dem Motto „Die Bedeutung der Linie“ – auch noch unter ein zweites gemeinsames Motto stellen, das für beide Ausstellungen gleichermaßen Gültigkeit besitzt und das künstlerische Schaffen Lehmbrucks insgesamt charakterisiert: „Vollendung durch Variation“.