Die Donau als Aufführung

Peter Sragher: „Jeder Atemhauch ist eine Idee, jeder Atem ein Gefühl. Und alles pure Energie!“

Umschlag des Gedichtbandes “poemele dunării/danube poems“ | Quelle: Verlag Brumar

Bei einer Lesung in Poiana cu Cetate in Jassy | Foto: privat

Dichter, geschulter Germanist und bekannter Übersetzer aus dem Deutschen, Englischen und anderen Sprachen, Peter S r a g h e r (geb. 1960) ist Vorsitzender der Abteilung Bukarest - Literarische Übersetzungen des rumänischen Schriftstellerverbandes, Mitglied des Rates dieses Verbandes und der Grazer Autorinnen- und Autorenversammlung in Österreich. Er koordiniert die einzige monatlich erscheinende Online-Publikation über literarische Übersetzungen in Rumänien, „Revista de Traduceri Literare“ (Zeitschrift für literarische Übersetzungen; www.fitralit.ro). Transdisziplinarität ist der Leitsatz, an dem Peter Sragher sich während seiner gesamten Karriere orientiert hat. 2020 hat er den dreisprachigen Gedichtband „poemele dunării/danube poems” im Brumar Verlag Temeswar/Timișoara veröffentlicht. Welche Gedanken und Gefühle Peter Sraghers Werken zugrunde liegen, verrät er im Gespräch mit ADZ-Redakteurin Irina R a d u.

Herr Sragher, woher rührt Ihr Zugang zur Literatur? Wann haben Sie zu Schreiben begonnen?
Ich schrieb mein erstes Gedicht mit zehn Jahren und es erschien in der jährlichen Zeitschrift „Anul 2000“ (Das Jahr 2000) des Deutschen Gymnasiums in Bukarest. Es war eine Zeitschrift, die Texte von Schülern in drei Sprachen, Deutsch, Rumänisch und Englisch, veröffentlichte. Mein Vater, der Schriftsteller und Historiker I. M. [tefan, las uns Gedichte von Mihai Eminescu und George Bacovia bei Kerzenlicht vor. Meine Tante, Elena Andrei, die wir Tantieni nannten, lehrte mich und meinen Bruder schon mit sechs Jahren Englisch. Kultur und Sprachen – viele – waren bei uns die Regel im Haus. Und die symphonische Musik. Mein Onkel, Unchiudidi, hatte Klavier bei Florica Musicescu studiert und die Abende in seinem Haus mit Bach, Beethoven, Schubert, Mozart, Mahler, Chopin usw. waren magisch. Später begann ich weiter gereimte Gedichte zu schreiben und mit 26 verbrannte ich die meisten, nur einige blieben von meiner Wut verschont. Seitdem schreibe ich ohne Reim. Manchmal wird die Harmonie des Reims sichtbar in meinen Gedichten, aber sie ist nicht mehr artifiziell, sondern natürlich.

Was war der Moment, als Sie zum ersten Mal feststellten, dass Sie die Bühne der Literatur und Kunst beschreiten möchten?
Nach einer Enttäuschung auf einer Lesung mit 26 Jahren geschah etwas Besonderes in meinem Leben: Befreit von Reim schrieb ich freie Rhythmen. Ich machte mein Debüt ziemlich spät, 1987, in der Kulturbeilage von „Scânteia tineretului“ mit einem Vorwort des Dichters Ioan Alexandru. Ein Jahr später erschienen meine Gedichte in der Temeswarer Literaturzeitschrift „Orizont“. 
Ich glaube, dass der Kontakt zur österreichischen Literaturszene durch den von Bernhard Widder und Chris Loidl in Wien geleiteten „Salon“ am Anfang der neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts für mich eine große Rolle spielte. Hier traf ich Performance-Dichter erstklassiger Qualität, die mir die Poesie so vorstellten, wie sie mir bis dann nicht vorstellbar war. Mich beeindruckten vorerst Chris Loidl und Gerhard Kofler, aber auch die amerikanische Performance-Dichterin Anne Waldman. Die Mimik, Gestik und eine ausbalancierte Aussprache beim Vortragen eines Gedichtes sind so wichtig. Man spricht nicht nur Worte, sondern drückt eine wesentliche Energie aus, die man dem Gegenüber übertragen muss.

In Ihrem Gesamtkunstwerk wird der Fluss zum Leitmotiv. Wie sind Sie zu diesem Thema gekommen?
Flüsse, fließen, ja, diese Macht des Wassers, das Vorbeifließen, die verschiedenen Töne des Wassers, die Musik, aber auch die Energie des Wassers, die Windungen, die Berge niederwälzen in Tausenden und Tausenden von Jahren, überwältigen mich in ihrer Mannigfaltigkeit und Schönheit. Ich begann mich selbst besser zu verstehen, wobei ich das Wasser betrachtete und empfand, dass ich selbst aus Wasser bestehe, obwohl ich nicht fließe, sondern manchmal nur schwimme. Vielleicht werde ich vom Wasser auch mal fließen lernen und aus einem Fluss zum Meer werden. Zurück zu den Wurzeln, ja.

In welchem Maße lassen Sie Spontaneität beim Schreiben und Rezitieren zu? 
Ich sitze nicht wie einige Schriftsteller vor dem weißen Papier und warte, dass ich von der göttlichen Eingebung bereichert werde. Immer schreibe ich vom Geistesblitz erfasst. Eine Farbe, ein Ton, eine Form, ein Geruch usw. können mich inspirieren und dann… fließt das Gedicht durch meine schnellen Finger. Da ich die Methode blind zu tippen kenne, schau ich nicht mal auf meinen Laptop, sondern sehe mir meine Umgebung an, aber das Gedicht rock-and-rollt.

Was bedeutet Ihnen eine Lesung?
Für mich ist ein Gedicht so wichtig, weil ich eigentlich meine Seele, mein Wesen den Menschen offenbare und eine Lesung ist für mich sehr ermüdend. So-zusagen höhlt sie mich aus. Es entsteht eine Leere. Verstehen Sie? Ich verliere einen Teil meines Wesens, ich biete einen Teil meines Seins den Zuhörern, eigentlich ist es – um mit Rainer Maria Rilke zu sprechen – ein „Larenopfer“. Und jedes Opfer tut weh, aber hier in einer erbaulichen Weise. Jeder Atemhauch ist eine Idee, jeder Atem ein Gefühl. Und alles pure Energie!
 
Im Rahmen der Veranstaltung „Josef Trattner‘s Danube Sofa Journey“ gaben Sie zusammen mit Josef Trattner und Ivan Hristov eine unvergessliche, aus sich überschneidenden Sphären bestehende Darbietung, in die performative Elemente, Gedichte und Musik einflossen, um die tiefgreifende Symbolik der Donau mit ihren multikulturellen Nuancen hervorzuheben. Wie sieht die Donau in Ihren schriftstellerischen Werken aus?
donau / vergiss mich nicht/ vergiss nicht / dass wir keine schuld tragen/ die sonne /nimm die sonne und schelte sie / und ertränke sie / und mach ihr den garaus / und strafe sie so hart / und nimm ihr die strahlen weg / nimm ihr den stolz / und ihre augen / und ihre hände / und alles / aber lass uns in ruhe / ruhen / ausruhen / nimm dich nicht unserer an / lass uns sein / lass uns weiter spazieren / lass uns sein / sein / sein / sein / sein (aus dem Gedicht „flow flowing along away aside“)

Man bemerkt in Ihren Werken den metaphorischen Zusammenhang zwischen der Donau, die durch so viele Länder fließt, und Ihren transnationalen Erfahrungen. Wie hat sich das Reisen auf den Prozess des Verfassens Ihrer literarischen Werke ausgewirkt?
Sehr stark. Ich schreibe meistens für Auftritte in den verschiedenen Ländern. Das Gedicht, aus dem ich ein auf Deutsch geschriebenes Fragment zitiert habe, ist als Folge eines Gedichtefestivals, das in Höflein an der Donau (etwa zehn Kilometer von Wien entfernt) stattfand, entstanden. Die amerikanische Dichterin und Germa-nistin Hillary Keel, die Jahrzehnte in Wien gewohnt hat, fragte mich, wie das Festival in Höflein war. Und statt ihr eine neutrale Antwort zu geben, erlebte ich erneut die Atmosphäre nach und schrieb das Gedicht, woraus ich zitiert habe. Ein Gedicht, abwechselnd auf Deutsch und Englisch geschrieben. Ein anderes Gedicht, „brat i slava“, entstand aus der Freude, in der slowakischen an der Donau liegenden Hauptstadt zu lesen.

Die Aufführungen, in denen Sie Ihre Gedichte vortragen, können als Theaterstücke wahrgenommen werden. Welche Kriterien stellen Sie an eine erfolgreiche Performance?
Ich versuche mit den Gedichten, die ich geschrieben habe, nicht nur die Worte auszusprechen, sondern auch den Rhythmus, die Gefühle, die ich verspüre, auszudrücken, die von Mimik und Gestik ergänzt werden. Ich habe einen guten Freund, den Österreicher Bernhard Widder, Architekt, Architekturhistoriker, Dichter und Fotograf, der der Meinung ist, dass man Gedichte nicht als „Performance“ vortragen darf, sondern ganz einfach. Er hat die Aussage gemacht, dass nach dem Pathetismus der Nazi-Zeit der Pathetismus selbst als literarische Darbietung heute nicht mehr sein darf. Ich bin anderer Meinung. Man muss nicht für die Fehler der Eltern und Großeltern persönlich büßen, man muss nicht die eigene Persönlichkeit kastrieren, sondern es ist notwendig, die eigene Stimme zu finden, so wie sie ist. Und für mich ist Performance der Weg zum Publikum.

Welche Werke liegen Ihnen noch am Herzen? Sind sie bestimmten Zeitabschnitten Ihres Lebens gewidmet?
Das Buch über Griechenland, „dimineața sărută genunchiul athenei“ (der morgen küsst athenes knie), Brumar Verlag, Temeswar, 2012 war so eine tiefgründige, absolute Freude. Und die Geschichte dieses Werkes entwickelte sich so, dass es 17 Jahre nachdem der größte Teil niedergeschrieben worden ist, erschien. Mit Gedichten in drei Sprachen, inklusive Deutsch. Das mythische Griechenland ist für mich ein Wunder, ein Land, dem ich mich sehr nahe fühle. Ich empfinde, dass die Jahrtausende zur Antike keine Grenze für mich sind. Ich empfinde mich als Grieche vor zweitausend Jahren. Das zweite wichtige Buch ist meinem Sohn David-Thomas gewidmet, in dem ich kleine Geschichtchen über seine Entwicklung als Kind von zwei Jahren bis etwa zehn Jahre schrieb. Ohne ihn wäre das Buch nicht entstanden, denn so viele seiner Aussagen stehen dort … und auch einige abstrakte Aquarelle, als er sechs, sieben Jahre alt war, sind Bestandteil des Buches „Cartea lui David“ (Davids Buch), Brumar Verlag, Temeswar, 2017.

Wir wissen, dass Sie auch eine Leidenschaft für Fotografie hegen...
Mein Freund, Bernhard Widder, sagte mir einmal: „Fotografie ist eine andere Art zu sehen“. Und ich habe vieles von ihm gelernt, als wir auf Reisen und beim Fotografieren waren. Den „genius loci“ zu finden, nachzudenken, die Hast zu vergessen, die Freude des Details usw. Für mich ist Fotografie, einen Augenblick der Schönheit festzuhalten. Ich erinnere mich an jeden Ort, den ich fotografiert habe, denn emotionell hat mich dieser Ort, dieses Objekt, diese Person tief beeindruckt. Die Fotoausstellung mit dem Österreichischen Kulturforum, damals war der Direktor Dr. Rainer Schubert, die im Museum der Stadt Bukarest organisiert wurde, war eine Freude. Ich bekam sogar ein Stipendium, um meine Fotorecherchen zu vertiefen, von „KulturKontakt“ vor vielen Jahren, da es um schwarzweiß Fotografie im Wiener Prater und in der Lobau ging. Ich hatte die Ausstellung „lemn viu, lemn rupt, lemn mort în Prater și Lobau“ (lebendiges Holz, gebrochenes Holz, totes Holz im Prater und in der Lobau) in Rumänien mit einem Videofilm, der meine Texte über Holz und meine Fotos zeigte, leider aber keine Ausstellung in Österreich. Dort hat es nicht geklappt. Leider.

Möchten Sie uns einen Schlussgedanken mitgeben?
Ein Dichter ist Dichter nicht nur im Augenblick der Eingebung, wenn er die Verse entstehen lässt, oder die Verse entstehen und er schreibt sie nur nieder, wie ein Schreiber aus der antiken Welt, auf einem Stein in der stillen Einsamkeit meißelnd. Der Dichter ist permanent Dichter: wie er die Welt sieht, wie er die Schönheit erkennt, aber vor allem, wenn er diese unglaubliche Energie in der Luft auffängt und sie in Bewegung, in seinen Körper und – manchmal – in Verse umwandelt.

Vielen Dank für das Gespräch!