Es ist gewiss nicht leicht, literarisch etwas zu einem Thema beizutragen, das bereits oft und sehr gründlich behandelt worden ist. Dazu gehört auch der letzte Weltkrieg, mit dem sich die Nachkriegsliteratur gründlich befasst hat. Für neuere, und somit weniger bekannte Autoren, ist das Verfassen eines Romans zu diesem Thema oft eine entmutigende Aufgabe, wenn man bedenkt, was man für eine Konkurrenz auf diesem Gebiet in der deutschsprachigen Literatur hat: Einen Wolfgang Borchert („Nachts schlafen die Ratten doch”, 1947) oder einen Heinrich Böll („Ansichten eines Clowns”, 1963), die die ganze Kahlschlagliteratur (auch „Trümmerliteratur“ genannt) entscheidend geprägt haben, kann man nicht so einfach überbieten. Oder Hans Fallada („Jeder stirbt für sich allein”, 1947), Günter Grass („Die Blechtrommel”, 1959) und vor ihnen Erich Maria Remarque („Im Westen nichts Neues”, 1929) oder Ernst Jünger („In Stahlgewittern”, Erstausgabe im Jahre 1920). Wahrlich kein leichtes Unterfangen, einen literarisch wertvollen Beitrag zu diesem Thema zu wagen. Dennoch gibt es wenige, jedoch sehr interessante deutschsprachige Bücher zum Thema Krieg bzw. Nachkriegszeit, die nicht vor fünfzig Jahren erschienen sind, und die eben nicht von den „Klassikern“ des Genres stammen, wie zum Beispiel Bernhard Schlinks großartiger Roman „Der Vorleser“ (1995), der mit dem Deutschen Krimipreis ausgezeichnete Band Mechthild Borrmanns „Trümmerkind” (2017) und nicht zuletzt der im Jahre 2016 erschienene Roman Ralf Rothmanns, „Im Frühling sterben“, der in fast alle europäischen Sprachen übersetzt worden ist und der auch das Unmögliche möglich macht: gute, neue, literarisch anspruchsvolle Kriegsliteratur.
Der Roman beginnt in media res mit dem entfremdeten Verhältnis des Ich-Erzählers zu seinem sterbenskranken Vater, ein außergewöhnlicher und nun in die Jahre gekommener Mann, oder wie der Autor sagt, von allen respektierter Mensch, denn „das Wort hochanständig fiel oft, wenn von ihm die Rede war“, der einst in seiner Jugend das war, „was es je kaum gibt: ein eleganter Arbeiter“. Die Beschreibung des Vaters erinnert unvermittelt an den Schreibstil eines Alan Sillitoe und auch an seine Arthur-Seaton-Figur: „Am Ende zerarbeitet, früh verrentet und vor Scham darüber schnell zum Alkoholiker geworden, verlangte er nicht viel mehr vom Leben als seine Zeitung und den neuesten Jerry-Cotton-Roman vom Kiosk“.
Die eigentliche Handlung des Romans wird dem Leser erst durch eine Rückblende klar, die Hauptfigur auch: Es geht um die Geschichte, diesmal aus einer auktorialen Erzählperspektive dargestellt, zweier siebzehnjähriger Melker aus Schleswig-Holstein, Walter Urban (der Vater des Ich-Erzählers im Epilog) und Friedrich – „Fiete“ – Caroli, die gegen Ende des Krieges zwangsrekrutiert werden. Beide landen unfreiwillig bei der Waffen-SS, ohne vom nationalsozialistischen Heldenmythos berührt zu sein, ganz im Gegenteil, sie erwarten sehnsüchtig die bedingungslose Kapitulation des Dritten Reichs. Sie machen die Grundausbildung zusammen, jedoch trennen sich ihre Wege nach nur kurzer Zeit: Die Fahnenflucht Fietes hat fatale Folgen, für ihn selbst und auch für seinen Freund, Walter. Als Fahrer der Versorgungseinheit ist Walter kein aktiv handelndes Subjekt, ihm fällt aber die Rolle des mehr oder weniger stillen Beobachters hinter der Front zu – er beschreibt rührend, ohne jedoch theatralisch zu werden, die Gräuel der letzten Kriegstage, die unsinnigen Exekutionen und die Absurditäten der Plattenseeoffensive, deren Hauptziel den Vormarsch der Roten Armee in Richtung Wien zu stoppen war.
Fiete erweist sich als eine Art Katalysator im Buch, er ist nicht nur Walters bester Freund, seine Verbindung zum Leben im Dorf vor dem Krieg, sondern er bringt es mit jeder seiner unbedachten Taten fertig, zutiefst menschliche Gefühle in Walter hervorzurufen, und das in einer Zeit der ungeheuerlichen Barbarei. Äußerst rührend und literarisch mit feiner Feder dargestellt sind die Versuche Walters, seinem Freund aus der Patsche zu helfen. Das Gespräch zwischen Walter und dem Sturmbannführer Domberg, einem an Etymologie, Lyrik und Grammatik interessierten Ostpreußen, ist ein literarischer Höhepunkt des Buches. Fietes Versuch, der Tragik des Krieges zu entkommen, führt unweigerlich zum tragischen Ausgang der Handlung, nämlich zu jenem Geschehen, welches Walters Menschlichkeit brutal und für immer zerbricht. Im Krieg gibt es kein Entkommen, auch Überlebende kommen nicht unversehrt davon.
Die Beziehung zwischen Vater und Sohn kann als eine Art Leitmotiv des Romans verstanden werden. Die gekonnt dargestellte, fiktionale Handlung ist in den Erzählrahmen einer Einleitung und eines Epilogs eingebunden, welcher Fiktion und Wirklichkeit auf wunderbare Art und Weise verbindet: Nicht nur Walter entscheidet sich, das Grab seines Vaters während des Krieges in Ungarn ausfindig zu machen, sondern auch der Ich-Erzähler ist auf der Suche nach dem Kriegserlebnis seines Vaters, dessen Schweigen er als bedrückend empfindet. Auch das Motto des Buches, „Die Väter haben saure Trauben gegessen, aber den Kindern sind die Zähne davon stumpf geworden“, aus dem Buche Hesekiel, bekräftigt diese Aussage, denn auch im Buche Hesekiel geht es darum, ob der Sohn für die Sünden des Vaters sühnen muss und umgekehrt. Und darin ruht auch die Moral des Romans: Jeder Sohn eines sündigen Vaters kann sich von ganz alleine und durch seine Taten von der Erbschuld befreien: „Der Sohn soll nicht die Missetat des Vaters mittragen, und der Vater soll nicht die Missetat des Sohnes mittragen. Auf dem Gerechten sei seine Gerechtigkeit, und auf dem Gottlosen seine Gottlosigkeit” (Hesekiel 18,20).