Die Welt – eine Mozartkugel

Ein ganz und gar ungewöhnlicher Salzburg-Führer

Ein Buch, in dem es leere Seiten gibt, seltsam, oder? Die Autorin, die Münchner Philosophin und Künstlerin Claudia Pescatore, fordert uns auf, die Seiten mit eigenen Inhalten zu füllen: „Das Buch ist auch dazu da, hineinzuschreiben, anzustreichen, durchzustreichen, zu fantasieren, zu assoziieren, zu zeichnen.“

Ein Buch, das als Stadtführer fünf Spaziergänge durch die Festspielstadt Salzburg vorschlägt: durch den Mirabellgarten (1), zum Hotel Bristol (2), über den Sebastiansfriedhof und den Max-Reinhardt-Platz (3), zur Franziskanerkirche (4) und durchs Museum der Moderne (5). Ein Buch, das sich allerdings auch als ein freies Gedankenspiel rund um fünf Themen lesen lässt: den Garten, das Hotel, den Friedhof, den Platz, das Gotteshaus und das Museum. Ein ungewöhnliches Buch! Doch nach der Lektüre versteht man den Prozess, zu dem die Autorin verführen will, sehr wohl: Strenge Örtlichkeit, verbunden an feste Koordinaten, verwandeln sich unversehens in einen offenen, grenzenlosen Raum der Möglichkeiten, in eine Utopie, die spirituell-religiöse, philosophisch-literarische Dimensionen erschließt. Leichtfüßig – die Sprache; reich an Assoziationen – der Inhalt, und passend dazu die grafische Gestaltung: Durchgehend finden sich irisierend-verschwommene Stadtansichten und spontan eingefügte, die Handschrift nachahmende Querverweise. Alles in diesem Buch ist stimmig: Zur konkreten Stadtatmosphäre gesellt sich eine ideelle Dimension, die Überraschungen bereithält. Welche Verbindung gibt es zwischen einer Mozartkugel und Paracelsus? Mal abgesehen davon, dass er – „jenseits des Celsus“ (so die ungefähre Übersetzung aus dem Altgriechischen) – als Salzburger Urgestein gilt, ist er als berühmter Wunderarzt und Alchimist bekannt. Und wenn Salzburg, eine Stadt mit einem gewaltigen Weltkulturerbe und mit „überdimensionierten Mozartkugeln“, dem Besucher nicht „bleischwer im Magen“ liegen soll, dann hilft nur Paracelsus? „Drei Prinzipien Lehre“. Im Nu „transsubstanziiert“ sich die süße Praline und wird zum Inbegriff der Welt: „Sie ist rund, besteht aus drei Schichten, einem inneren Kern (Sulphur = helles Marzipan), einer äußeren Haut (Sal = feine Schokolade) und einer beides verbindenden Füllung (Mercurius = geschmeidiger zarter Nougat).“ Mozart, auf dessen Don Giovanni sowie auf die Vorgänger- und Nachfolger-Don-Juans die Autorin ausgiebig eingeht, hätte diese Interpretation gefallen! Kongenial hätten auch alle anderen Persönlichkeiten, die in diesem Stadtführer vorkommen, den Vergleich gefunden: die Welt – eine Mozartkugel. Wir stellen uns vor, die verwegene Äbtissin Erentrudis vom Salzburger Nonnberg und die mutige Mystikerin Hildegard vom Rupertsberg in Bingen hätten bei einem geheimen Stelldichein Mozartkugeln gegessen; der unangepasste Fürstenbischof Wolf Dietrich von Raitenau, der auf dem Schloss Mirabell residierte, hätte dem unangepassten Onuphrius, dem einsamen Heiligen in der Wüste, mittels eines Boten Mozartkugeln zugeschickt und ihn vom guten Weg abgebracht. Die Schriftstellerin Ingeborg Bachmann hätte den Künstler Friedensreich Hundertwasser während der Aufführung des „Jedermanns“ bei den Salzburger Festspielen mit Mozartkugeln verführt … So kreativ kann das Buch von Claudia Pescatore machen: Die Assoziationslust wächst mit jeder Zeile, die man liest. Und welche Persönlichkeiten in diesem Stadtführer die konkreten Gebäude des Weiteren zu „transsubstanziieren“ helfen, müssen Sie selber herausfinden. Die Entdeckungsreise lohnt sich.


Claudia Pescatore: „Salzburg – ein Festspiel. Parcours – Promenade – Prozession“.
 Mit Illustrationen & Fotografien von Annette Rollny und Bernhard Müller, Anton Pustet Verlag, Salzburg 2024, 144 Seiten, 30 Euro. ISBN 978-3-7025-1123-4