„InZwischen“ lautet der in der Lyrikedition 2000 im Allitera Verlag München erschienene Gedichtband mit Zeichnungen von Thitz, den der deutsch-schweizerische Germanist, Hochschullehrer, Essayist und Lyriker Wolfram Malte Fues unlängst veröffentlichte. Zu den Forschungsschwerpunkten des 1944 in Bremen geborenen und seit 1965 in der Schweiz lebenden Professors und Literaturwissenschaftlers gehören Arbeiten zum deutschen Roman von der Aufklärung bis zur Gegenwart, zum Diskurs der Geschlechterdifferenz in der deutschen Aufklärung, zur klassischen und zur modernen Ästhetik, zur Postmoderne, zur Medien- und Wissenschaftstheorie. Er publizierte Lyrik und Essays in deutschen, schweizerischen und österreichischen Literaturzeitschriften und Anthologien, wirkt aktiv am Internationalen Lyrik-Festival Basel mit. Im Dezember 2013 war Fues Gast des Departments für Germanische Sprachen und Literaturen an der Universität Bukarest, wo er im Rahmen der Nacht der deutschen Kultur aus seinen Werken las.
Schon der Titel des 128 Seiten starken Lyrikbandes deutet auf einen Autor hin, der die deutsche Sprache in ihrer Grammatik und Syntax, in ihren feinsten rhetorisch-stilistischen Nuancen beherrscht. An folgendem Beispiel (S. 6) soll diese Behauptung veranschaulicht werden:
Die Zeit ist in den Fugen.
Zeit (a : b = c : d) Fugen.
In = Fugen
Zeit
Den plus Die mal
Wurzel aus minus Ist
Fugen-Zeit?
Für Unbefugte
Zutritt geboten.
Die Texte von Fues sind manchmal hermetisch und schwer, manchmal kristallklar und einfach zu verstehen. Auf jeden Fall sind sie gründlich durchdacht und bis ins kleinste Detail ausgefeilt. Der Tonfall ist raffiniert und sicher. Zu den oft verwendeten Stilmitteln gehören die Alliteration: „Unter Dach ohne Dach / schlafen die Blitze. / Am Felsüberhang / bauen die Donner / auf Dächer für später. / Der Fels hängt seinen / Gedächtnissen an / ohne Hang / zu ihren.“ (S. 12) Auch Aufzählungen, Enjambements, Anapher, Ding- und Farbsymbole sind in den Gedichten anzutreffen. Diese verleihen den Texten lyrische Substanz und philosophische Tiefe: „Tunnel / Tag / Tunnel / Wille und Schicksal. / Sinn und Geschichte. / Geist und Gesetz. / Mit dem Teleprompter / Leben schreiben / unter Berg durch Tal.“ (S. 14)
Wissen und Bildung werden vom Dichter souverän eingesetzt: „Die Sonne wandert / über Hegel und Marx. Gleich / fällt sie auf Nietzsche. Benjamin / liegt mit Adorno / schon halb im Schatten. Heute / geht sie mit Peirce und Bloch. Morgen / wird Anderswertag.“ (S. 28) Fues bevorzugt pointierte, aphoristische Ausdrucksweisen, woran sein solides geistesgeschichtliches Format zu erkennen ist.
Subtile Ironie und Anspielungen auf den Zeitgeist machen aus einem auf Anhieb harmlos klingenden ein vielschichtiges Gedicht: „Ein Baum wie / eine Antenne. / Eine Antenne / wie ein Baum. / Demnächst / botschaften Bäume / blühen Antennen.“ (S. 44)
Einfallsreiche Wortspiele und kluge Aperçus versteht Fues meisterhaft zu handhaben: „Das andere Land / dasselbe Land / wie dieses Land. / Nur. Aber. Obwohl. / Nichts schlechterdings desto. / Trotz möglicherweise dem. / Viel / leicht. / Gleich / viel. / Disney-land.“ (S. 36)
Unerwartete Wortkombinationen und -assoziationen überraschen und ergötzen zugleich: „Sonnenterrasse / Scheibenradgrosse / Sonnenbrille. / Brillenglasgroße / Gurkenscheiben.“ (S. 26)
Das Substantiv „Nummer“ und seine Zusammensetzungen rekonstruieren den Alltag im heutigen Leben eines jeden von uns: „Eine Versicherungs-Nummer / eine Telefon-Nummer / eine Konto-Nummer / eine Auto-Nummer / eine Pass-Nummer / eine Haus-Nummer / sind gestrichen / und unterm Strich / wie neu.“ (S. 94)
Eine Art Autobiografie lesen wir aus folgenden Zeilen heraus: „Seit ich 20 bin / hab‘ ich in der linken Hosentasche / meinen Autoschlüssel. / Seit ich 70 bin / hab‘ ich in der linken Hosentasche / keinen Autoschlüssel. / Unter dem Druckknopf / des Schlüsseletuis / macht seine Geschichte / sich fertig / zum Dreisatz.“ (S. 114)
Eine Stilfigur wie die Paronomasie zu erfinden, ist eine Kunst, die nicht jedem liegt, doch in den Gedichten von Fues trifft man sie oft an: „Die Kälte hat sich / ins Kalte gerettet. / Hat mich / kalt / vor Kälte gerettet.“ (S. 118)
Die Verse „Schläft ein Wie / in den Dingen, die nein / zueinander sagen?“ (S. 46) erinnern an Eichendorff, Benn wird andernorts heraufbeschworen: „Er / war sich sicher / über Steigen und Fallen.“ (S. 110)
Wie sich die Denk- und Schreibweise von Fues entwickelt, wie die Worte ins Rollen kommen und einprägsame Bilder entstehen lassen, verdeutlicht folgendes existentialistisches Gedicht: „Mir tut nichts leid. / Mir tut nichts weh. / Mir macht nichts Angst. / Mir macht nichts Lust. / Mir ist nichts schwer. / Mir ist nichts leicht. / Ist wer? / Tut nichts. / Mach.“ (S. 102) Oder das vorletzte Gedicht im Band, das, wie alle anderen, keinen Titel trägt: „Ich verliere das Augenlicht / Ich verliere das Licht / Ich verliere die Augen / Ich verliere / Ich verlier / Ich.“ (S. 122)
Ausgefallene Wortschöpfungen faszinieren immer wieder den Leser und regen ihn zum Nachdenken an: „Der Nebel hebt sich / sich auf / über ihn winterhin / hebelnden Herbst.“ (S. 52)
Die Gedichte von Wolfram Malte Fues stehen in einer langen Tradition der deutschen Lyrik und spannen den Bogen vom experimentellen Charakter der Jahrhundertwende über das Dinggedicht und Seherlebnis zum Surrealismus bis zur konkreten Poesie. Die Zeichnungen von Thitz, dem Fues in der Galerie Mollwo in Riehen begegnete, bieten visuelle Interpretationsalternativen für die nicht immer leicht zu entschlüsselnden Texte. Sie bestehen aus einfachen, wesentlichen Linien, Buchstaben, Zahlen, Sprechblasen, Figuren, Signaturen, Konturen und verwandeln den Gedichtband in eine einmalige gehaltvolle Mischung von Bildkunst und Gedankenlyrik.