„Zähle die Mandeln,/ zähle, was bitter war und dich wachhielt,/ zähl mich dazu“, spricht eine Stimme im absichtlich langsamen Rhythmus. Ist es ein Leiden, das man in der Sprachmelodie errät? Hat der Vortragende davor schon resigniert? Was man zu hören bekommt, ist eine der sehr wenigen Audio-Aufnahmen von Paul Celan. Das Bild eines Mannes mit einem melancholischen, direkten Blick und großer Stirn an der Leinwand dominiert den ganzen Raum. Es ist ein erstickend heißer Freitagabend und die meisten Anwesenden versinken in die Dunkelheit der Gedichte von Celan. Nach jedem Gedicht hört man eine zweite Stimme, von einem ähnlich-aussehenden, gekrümmten Mann mit gerunzelter Stirn, der die Übersetzung ins Rumänische vorliest. Der Übersetzer scheint ebenso gequält zu sein wie der Autor vor Jahrzehnten.
Es ist ein großes Ereignis des Polirom-Verlags: Gefeiert wird mit auserlesenen Gästen das Erscheinen einer vollständigen Ausgabe der Dichtung Paul Celans in rumänischer Übersetzung. Der erste Band ist jüngst erschienen und wurde letzte Woche im Bukarester Conceptual Lab präsentiert. Der zweite Band mit insgesamt 400 Gedichten wird vorbereitet, das Übersetzen übernimmt derselbe George State.
Anwesend sind der Anthropologe Andrei Oişteanu, der Schriftsteller Horaţiu Gabriel Decuble und der Übersetzer des Bandes, George State; seitens des Verlags kamen Bogdan Alexandru Stănescu und Miruna Vlada. Die Sprecher sorgen für eine aufschlussreiche Einführung in das Leben und die Bedeutung des Gedichtes bei Celan.
Andrei Oişteanu beschäftigt sich zuerst mit der Biografie Celans: Er stellt die Entwicklung eines jungen Juden aus Czernowitz dar, der von einem großen Trauma geprägt wurde. Geführt wird das zahlreiche Publikum von einer Lebensstation des Dichters zur anderen – durch Bukarest, über Ungarn, Wien und letztendlich nach Paris. Auf der Lebensreise Celans erklärt der Anthropologe den historischen Kontext und die Entwicklung der Umstände in jedem erwähnten Land sowie das Milieu des Dichters in Einzelheiten und veranschaulicht wesentliche Episoden mit Zitaten aus gefundenen Briefen und Tagebüchern. Auf diese Weise können die Anwesenden Celan lebensnah kennenlernen, ebenso wie seine Freunde oder Bekannten ihn wahrgenommen haben. Der Anthropologe lenkt die Aufmerksamkeit des Publikums von einer Perspektive zur anderen – von langjährigen Freunden zu Bekannten, Geliebten oder Lebensgefährtinnen.
„Psychiater nennen das, was Celans Leben endgültig geprägt hat, posttraumatische Belastungsstörung“, beginnt Oişteanu. „Die Überlebenden des Holocausts haben verschiedene Methoden, die Vergangenheit zu bewältigen – manche haben geschwiegen, andere haben gesprochen, andere haben sich umgebracht“, sagt der Anthropologe, der anschließend Hannah Arendt zitiert: Nicht die Besten haben überlebt. Ein Schwerpunkt der Diskussion liegt auf der Innenwelt Celans und deren Dynamik. Nicht vergessen wird die Rolle der deutschen Sprache: Celan habe eine Hassliebe-Beziehung zur Muttersprache gepflegt, der Sprache der Mörder seiner Eltern, die nach Transnistrien deportiert wurden.
Die Sprecher bringen Celans vielfältige Stimmen in Erinnerung – jede davon entsprach einem bestimmten Raum. In Bukarest hat der Dichter zwei Jahre verbracht in einer Zeit, „wo ein Albtraum zu Ende ging und ein anderer begann“. „Die Leute hatten eine kurze Zeit zum Träumen“, erzählt Oişteanu. In dieser kurzen Periode arbeitete Celan auf der Calea Victoriei bei dem Verlag Cartea Rusă. „An dem Ort, wo heute der Sitz von „Green Hours“ und „Revista 22“ ist, lernt er viele junge Dichter kennen, mit denen er sich schnell anfreundet. Das sind: Petre Solomon, Nina Cassian, Maria Banuş, Gherasim Luca. Es ist eine schöne Zeit der rumänischen Lyrik“, sagt der Anthropologe.
1947 nimmt Celan seinen Rucksack und verlässt das kommunistische Rumänien. Er gelangt illegal über die Landesgrenze nach Ungarn. In Wien verliebt er sich in Ingeborg Bachmann, die Tochter eines Nazi-Offiziers. Sechs Monate später siedelt er nach Paris um, wo er unter schweren Depressionen leidet. Mitte der 60er Jahre unternimmt Celan eine kurze Reise, um den berühmten Literaturkritiker Jean Starobinski kennenzulernen. Das war aber nicht aus Gründen, die etwas mit Literatur zu tun haben: Jean Starobinski hatte eine Geschichte der Melancholie geschrieben, und Celan interessierte sich für dieses Thema. „Melancholie ist ein sanfter Name für Depression“, sagt Oi{teanu. Ende der 60er Jahren fährt er nach Israel, was seinen seelischen Zustand zu verbessern schien. Von seinem psychischen Leiden konnte sich der Dichter nur durch Selbstmord befreien: „Ein gequältes Schicksal in einem gequälten Jahrhundert“, schlussfolgert der Anthropologe.
„Paul Celan ist einer der größten Dichter nach dem Zweiten Weltkrieg, aber auch der komplizierteste: Seine Gedichte sind extrem hermetisch. Er war ein Rebell – gegen Gott und gegen seine Muttersprache“, sagt Hora]iu Decuble, der die Protesthaltung des Dichters in Paratexten sieht, die den poetischen Text begleiten und vom Übersetzer berücksichtigt werden müssen. Veranschaulicht wurden linguistische Deformierungen anhand des Werkes Celans.
„Das Bedürfnis, die Gedichte zu verstehen, hat mich gezwungen, sie zu übersetzen. Ich las und las und konnte die Stimmung fühlen, ohne viel zu verstehen. Eine Übersetzung ist nicht möglich, ohne das Gedicht zu verstehen“, so George State. „Irgendwie fühlt man sich vom Autor selbst gezwungen“, sagt er. Dass die Leser sich mit dem Autor identifizieren können? Hier sei es nicht der Fall – „dabei geht es wirklich um ein einsames Schicksal“.
„Endlich kann das Publikum in Rumänien Celan entdecken“, erklärt Decuble anschließend, der die vorherigen Übersetzungen kritisiert. „Jedes Wort in der Ökonomie der Gedichte hat ganze Waggons mit anderen Wörtern hinter sich. Dieselben Waggons, mit denen seine Eltern nach Transnistrien deportiert wurden“, so der Germanist.
Darauf kommt der Höhepunkt des Abends: Celan selbst trägt ein Gedicht aus jedem seiner ersten fünf Bände vor.