„Annäherung an Katzendorf“ der Untertitel. Annähern, aber wie? Die, die vor ihr den von Frieder Schuller für seinen Geburtsort ausgelobten Preis erhalten hatten, kamen sozusagen von außen. Das waren unter anderen Elmar Schenkel aus Leipzig und Jürgen Israel ursprünglich aus der Oberlausitz. Dagmar Dusils Lebensumfeld aber war Siebenbürgen, ehe sie 1985 nach Deutschland ausreiste. Heute fühlt sie sich in Bamberg verwurzelt. Fremd oder vertraut? Wie erscheint ihr, was ihr von Oktober 2017 bis Oktober 2018 im Dorf, in der Umgebung begegnet? Vorsichtig beginnt sie, sammelt „Gesprächsfetzen und Kommentare im Vorfeld“, d. h. Gerüchte in und um Katzendorf, wie man sie wohl unter Siebenbürgern weiterreicht ohne jede Gewähr: Über Frieder Schuller, den Dichter und Filmemacher, über den fehlenden Komfort im alten Pfarrhaus, über teils prominente frühere Bewohner bzw. Gäste und – was unbedingt dazugehört – über mögliche verwandtschaftliche Verknüpfungen mit bekannten Familien.
So gewinnt die Autorin die Leichtigkeit, die nötig ist, um Emotionales, Faktisches, Erdichtetes, Überliefertes in der Schwebe zu halten. In kurzen Kapiteln entstehen Aperçus, leicht zu lesen in ihrer Unterschiedlichkeit, unterbrochen nur durch eindrucksvoll schlichte Schwarzweißfotos – die meisten stammen von der Autorin selbst. Da ist zunächst die Wiederbegegnung mit der Landschaft: „In Siebenbürgen hat die Zeit die Landschaft zu einem Teppich verwebt, der im Rad der Jahre verblasst, von den Berührungen der Gehenden und Kommenden sich abnützt, befleckt wird, zerschlissene Stellen aufweist, doch auch gereinigt wird. Geschichten erzählt dieser Teppich von ganzen Völkern, von Eroberern und Eroberten, von Suchenden und Findenden. Das Weberschiffchen steht nicht still. Der alte Teppich wird erneuert, mit anderen Bildern, Farben, die sich vermischen. Nuancen von einst schimmern durch, versuchen zu überdecken, Neues drängt an die Oberfläche.“ (S.171)
Aber es geht vor allem um die Menschen in diesem Dorf und in den Nachbarorten. Siebenbürger Sachsen leben kaum noch da, die letzte Bewohnerin ist recht abweisend (S.131 ff.). Es gibt aber noch die sogenannten Sommersachsen, wie z.B. Hedwig Herbert, die Seele von Schönberg, freundliche Gastgeberin und Fremdenführerin für ihr Dorf und ihre Kirchenburg in der warmen Jahreszeit, dann geht es zurück in die neue Heimat Deutschland. Das gilt auch für die „Herrin der Hengste“; die aber ist eine kaltherzige Person, die ihre Tiere im Winter einem Knecht überlässt; und das in einem Land, wo früher angeblich keiner Herr und keiner Knecht war. Aber das Bild wird noch bunter: das sind u. a. der Bio-Büffelzüchter Krishan aus Indien und Charlotte aus Belgien.
Dem Zusammenleben der drei Bevölkerungsgruppen, Rumänen, Ungarn und Roma, gilt das Hauptaugenmerk der Dorfschreiberin. Maria – das Roma-Kind – kommt dabei immer wieder ins Bild. Anhand ihres Schicksals wird die soziale Problematik in diesem Land nach der Wende, in einem geeinten Europa sichtbar. Die Beobachterin benennt die Missstände, wie Sozialbetrug, Bettelei u. v. a., doch spürt man dabei mitfühlende Besorgnis, keineswegs aber besserwisserische Überheblichkeit. Vor diesem Hintergrund leuchten sozusagen kleine Geschichten auf, scheinbar ohne Absicht dazwischengeschaltet: da geht es um Sagen wie die vom Draaser Schwert oder von der schönen Anna Simonis, die Prinzessin von Omer wurde, es geht um Historisches aus dem Mittelalter, der Kriegs- und Nachkriegszeit, um aktuelle Politik. Auch werden Bräuche von früher den heutigen gegenübergestellt, z. B. bei Hochzeiten, tempora mutantur.
Aus der kleinen Welt heraus werden große, über die Zeiten wirkende, kulturelle Verknüpfungen gesucht; Charles Bronner, Lucian Blaga, Csoma de Körösi seien hier stellvertretend für viele Namen von geistigen Größen genannt. Geografisch schweift der Blick auch in die Ferne: Kerala, Paris,Tibet. Dieses Vorgehen erkennt der Leser auch als typisch für diesen Landstrich: Wollten die Siebenbürger Sachsen nicht stets als Teil der Weltkultur gesehen werden, auf den Handelsstraßen zwischen Orient und Okzident zu Hause? Dass dabei das motivische Strickmuster zuweilen etwas engmaschig wird – wie etwa in dem Kapitel „Buchenherz“ – stört das Gesamtkonzept wenig.
Die Landschaft spielt neben den Menschen im Dorf die Hauptrolle. Poetisch, schlicht, die bildliche Sprache, mit der Dagmar Dusil sie wiedergibt. Diese Passagen haben einen eignen Wert, überbringen eine Stimmung der Sehnsucht, der stillen Trauer: „Siebenbürgen könnte ein Märchenland sein. Dieser Eindruck entsteht durch die Kirchenburgen und Fliehburgen, durch die Hügel, die davonzurollen scheinen, durch die Seen, die wie vom Himmel heruntergefallen anmuten, durch die prächtigen Holundersträucher am Wegesrand, zu denen Schafgarbe, Salbei und Dotterblumen andächtig aufblicken“ (S.46)
An anderer Stelle spielt die Autorin mit den Namen der Blumen, die – nicht nur seelische – Nahrung bedeuten: „Ich bin begeistert“, sagt ein fiktiver Wortzauberer zu der Dorfschreiberin, „,dass du wörtliche Nahrung zu dir nimmst, wie die Butter aus der Butterblume, den Mohn aus der Mohnblume, das Kraut aus dem Farnkraut. Kompliziert wird es beim Blumenkohl, da musst du dich für die Blumen oder den Kohl entscheiden. Und hüte dich vor dem Wermuth. Da musst du dich entscheiden, wer den Mut wann einsetzen darf und soll“ (S.242)
Ja, Mut gehört dazu, sich der Heimat in ihrer Wandelbarkeit zu stellen, sich ihr emotional auszuliefern. Es ist daraus ein Buch entstanden, das feinsinnig Tradition und Gegenwart in momentanen Eindrücken festhält und dabei kritisch, durchaus auch sozialkritisch beleuchtet. Die Dorfschreiberin hatte es wohl sehr eilig, das Erlebte poetisch zu verarbeiten, dazu hätte man ihr einen aufmerksameren Lektor gewünscht: Viele Fehler sind stehengeblieben, dass dabei aus Brautleuten Brauleute (S.203) werden, ist einer der harmloseren. In dem Abschlusskapitel „Antworten“ greift die Autorin die Fragen auf, die sie sich anfangs aufgrund von Gerüchten über Katzendorf/Cața gestellt hatte. Einige konnten geklärt werden – so gibt es da im Pfarrhaus, ein Jahr lang ihr Domizil, eine Toilette und eine Dusche –, viele bleiben offen,vor allem die, wie es weiter gehen kann mit dem bunten Bevölkerungsteppich Siebenbürgens im vereinten Europa. Dagmar Dusil formuliert es so: „Rumänien liegt am Rande Europas. Die Moldau öffnet sich nach Osten, der Süden dem Balkan, an der Küste sind orientalische Einflüsse zu spüren, Siebenbürgen öffnet sich nach Westen. Es ist ein Haus mit vielen Türen, die sich nicht hermetisch abschließen lassen, durch deren Ritzen verschiedene Gemütszustände eindringen und von den Bewohnern Besitz ergreifen“. (S.265)