Vor zwölf Jahren – 2010 - ist sie 98-jährig gestorben, die französisch-US-amerikanische Bildhauerin Louise Bourgeois, die seit 1938 in New York lebte und erst im hohen Alter als Pionierin der Postmoderne und vor allem der Installationskunst international berühmt wurde. Seit den 1990er Jahren nannte sie ihre Installationen „Cells“ (Zellen), umschlossene, psychologisch aufgeladene Räume, in denen sie Gegenstände mit autobiographischer Bedeutung, Stofffiguren aus Kleidungsstücken der Kindheit und Jugend als Füllung wie als Umhüllung arrangierte. Auch der weibliche Körper wurde bei ihr zu einem aus Raumzellen, aus hohlen oder gefüllten Formen, transparenten oder opaken Stoffbeuteln gebauten Gebilde. Die unterschiedlichsten Materialien sind so von ihr erprobt worden, jedes Experiment erschien ihr verlockend, banale Fundgegenstände hat sie umkleidet und zu seltsamen Gebilden geformt. Diese Zellen, diese Sackformen repräsentieren nach Auskunft der Künstlerin „verschiedene Arten von Schmerz: physischen, emotionalen, psychologischen, geistigen und intellektuellen Schmerz…“
Louise Bourgeois hat sich als „Gefangene meiner Erinnerungen“ bezeichnet. In den Zellen legte sie schmerzhafte Erinnerungen, psychische Belastungen aus ihrem Leben offen, um sie bewältigen zu können. Diese Zellen dienten ihr als Zufluchtsort, hier wird ein Leben beschrieben, das wirklich stattgefunden hat. Ins Gedächtnis zurückgerufen, gleichen sie einem architektonischen, einem skulpturalen Selbstporträt. Sie können aber auch zur Bedrohung werden. Es sind ja Käfige aus Drahtgeflecht bzw. Vitrinen aus Glas und Stahl, also abgeschlossene Räume, die für die Unentrinnbarkeit quälender Erfahrungen stehen.
Erstmals in Berlin werden jetzt im Gropius-Bau Louise Bourgeois‘ textile Arbeiten gezeigt, mit denen sie sich in den letzten anderthalb Jahrzehnten ihres Lebens beschäftigt hat. Sie sind eine Rückkehr zum Material ihrer Kindheit. Denn ihre Familie führte in Paris ein Unternehmen, das alte Tapisserien restaurierte und verkaufte. Als Musterzeichnerin hatte die junge Louise Füße und andere fehlende Teile in die beschädigten Werke einzuzeichnen.
Nunmehr schuf sie aus Haushaltstextilien (Kleidung, Bettwäsche, Frotteetüchern, Tapisseriestücken) – in Stücke geschnitten und wieder zusammengenäht - Stoff-Skulpturen, Patchwork-Konstruktionen voller Mehrdeutigkeiten. Das Schneiden, Reißen, Nähen, Zusammenfügen, Wiederherstellen der Textilien als neue Stoffkörper hieß für sie das Aufreißen alter Konflikte und Spannungen, aber auch das Heilen psychischer Verletzungen und Erkunden der Komplexität zwischenmenschlicher Beziehungen. Den Akt der Reparatur betrachtete sie im übertragenen Sinne als das Bedürfnis, etwas wieder gutzumachen.
Schon in den 1990er Jahren war ihre Werkgruppe der Spinnen entstanden, die großformatige – neun Meter hohe – Spinnenplastik „Maman“ (1999) und die Installation „Cell Spider“ (1997), in der das Spinnentier einen Käfig umfasst, in dem ein Stuhl und Tapisseriefragmente menschliche Präsenz bezeugen. Das Motiv der Spinne und des von ihr gesponnenen und gewebten Fadens identifizierte Louise Bourgeois ebenso wie ihre Mutter, die Weberin, als Reparateurin. „Wenn man ein Spinnennetz schlägt, wird die Spinne nicht wütend. Sie webt es weiter und repariert es.“ Die Spinnenfäden sind für sie Lebensfäden als Bild für das verstrickte Leben. Louise Bourgeois fertigte aus Stoffen auch dynamische abstrakte Zeichnungen, in denen das Motiv des Spinnennetzes dominiert. „Weaving“, ein Dickicht von Spinngeweben, war für sie „ein tröstlicher Zufluchtsort“, den „die Spinne gewebt und dann sorgsam gepflegt hat“.
Schon seit der griechischen Antike ist die Spinne mit der Tätigkeit des Webens in Beziehung gesetzt worden. Dem Mythos zufolge hatte die lydische Weberin Arachne die Göttin der Weisheit und der Webkunst Pallas Athene, die als Tochter des Göttervaters Zeus auch die patriarchalische Ordnung der griechischen Götterwelt repräsentierte, zu einem Wettstreit im Weben herausgefordert. Ob dieser Vermessenheit – stellte doch ihre Herausforderung der Göttin eine Bedrohung der patriarchalischen göttlichen Ordnung dar – war sie zur Strafe in eine Spinne verwandelt worden. In diesem Zusammenhang kann auch die Spinnenmutter bei Bourgeois als matriarchalisches Gegenprinzip zur dominierenden patriarchalischen Ordnung angesehen werden. Als übermächtige mütterliche Riesenspinne wirkt sie aber ebenso vertrauenseinflößend wie furchterweckend, ebenso schützend wie bedrohlich. Es ergeben sich hier also tiefere und bedrohlichere Bedeutungsebenen, die weit über die Biographie der Künstlerin hinausgehen.
Ein Eisengitterkäfig wird zum hoch emotionalen – körperlich schmerzhaften – Erinnerungsraum („Spider“, 1997). Vergitterte Zellen können sich aber auch als Gefängnis erweisen. Herabhängende Säcke aus haut- und rosafarbenen Stoffen erinnern an Organe, Membrane, Körper, Brüste oder Geschlechtsteile. Das flüssig-changierende Licht der Farbe verflüchtigt und verdichtet sich zur dunklen Hülle einer phantomhaft gequälten Menschlichkeit. Schwarze Stoffpuppen hängen kopfunter, eine „Sin-gle“ (1996), eine verstümmelte weibliche Figur, hat aber ihre Arme ausgebreitet – eine Gebärde der Unbeugsamkeit trotz des amputierten Körpers? Das Liebeslager wird zum Totenbett: „Couple“ (1997) – ein kopulierendes Paar, aber die Frau hat Prothesen als Ausdruck nicht nur physischer Behinderungen, sondern auch psychischer Verletzungen. Zeugung und Vergehen werden zeitgleich ins Bild gesetzt. „Knife Figure“ (2002) lässt ein Küchenmesser bedrohlich über dem Oberkörper eines kopflosen rosafarbenen Körpers schweben. „Lady in Waiting“ (2003) – eine armlose weibliche Figur, Spinnenbeine aus Stahl treten aus ihrem Leib hervor, sie speit Fäden aus ihrem Mund, eine Spinnenfrau also, die in einem eingezwängtem Raum in einem mit einem Tapisseriestoff gepolstertem Armsessel sitzt, auf ein Ereignis wartend, das nie eintreten wird, an einem Netz webend, das nie fertig werden wird. Ein zusammengenähter weiblicher Akt trägt das noch ungeborene Kind in einer Hülle vor dem Bauch („Untitled“, 1998). Mit „The Woven Child“ (2007) wie-derum erschuf Bourgeois aus Stofffetzen eine Mutter ohne Kopf und Gliedmaßen, die das perfekte kleine Kind, das sich auf ihrer Brust zusammengerollt hat, wie eine unleidliche Last empfindet. Eine Vitrine aus Glas und Stahl schließt dieses ungleiche Paar ein. Immer kehrt das Motiv der schwangeren Frau wieder – antiillusionistisch, überwirklich, brutal und zugleich als schicksalhaftes Zeichen des Dauerns und Weiterlebens. Die kontrapunktisch belebte Masse wird zur körperlich rhythmisierten Weiblichkeit geformt. Eine Säule aus übereinandergeschichteten Stofffragmenten erweckt den Eindruck einer Wirbelsäule, von der sich das Fleisch gelöst hat. „Spiral Woman“ (2003) – die Spirale ist eine potentiell unvollendete Form, die unendlich weitergedacht werden kann. Sie ist – so sagt Bourgeois – der „Ursprung von Bewegung im Raum“.
Die Künstlerin erforscht die psychologischen und emotionalen Auswirkungen menschlicher Beziehungen, die Intimitäten sowie die Ängste, die traumatischen Erfahrungen, die bis in ihre Kindheit zurückreichen, zu dem kleinen Mädchen, „das versuchte, gut zu sein und die Welt absolut abscheulich fand“, sie setzt sich mit Themen wie Abhängigkeit und Unabhängigkeit, Ein- und Ausgeschlossensein, Nähe und Abgrenzung, Schein und Sein, dem Aggressiven und Verletzlichen aus-einander.
Die starre Überhöhung der entmaterialisierten Menschengestalten, diese linear-aufragenden, in die Tiefe stürzenden, in der Unendlichkeit des Raumes Verlorenen und zugleich im Gefängnis existentialistischer Alpträume Eingesperrten lässt die Künstlerin wie Boten einer anderen, einer unbekannten Welt erscheinen. Hier wird strömende Bewegung erfasst und eingefangen, das Fließende zum Erstarren gebracht.
Louise Bourgeois sammelte und fügte die Überbleibsel von Empfindungen und Erinnerungsfetzen wieder zusammen. Textilien, gewebtes Material, Kleidungsstücke besitzen eine Geschichte, sie sind vergilbt, fleckig, abgenutzt, sie erinnern uns an die Person, der sie einmal gehörte, die den Abdruck anderer Körper trug. In den „Zellen“ offenbart sich Stoff als nicht mehr anwesende Körper, Stoff als Material, durchtränkt mit der Erinnerung an das Leben, an verkörperlichte Existenz und an Berührung.
So durchschreitet der Betrachter eine endlose Kette von Erinnerungen. Die einzelnen Gegenstände und Situationen werden in ein immer wieder anderes Beziehungsnetz verwickelt. Louise Bourgeois‘ Arbeiten lösen ein ganzes Netzwerk der Gefühle aus: Erschütterung, Mitleiden, Betroffenheit, Schmerz, Verletztheit, Bitterkeit, Aggression, Unversöhnlichkeit, Abscheu, sie demonstrieren aber auch spöttische Ironie, grimmigen Humor, Parodie und anderes mehr.
Louise Bourgeois - The Woven Child. Gropius-Bau, Berlin-Charlottenburg, Niederkirchnerstr. 7, Mi – Mo 10 – 19 Uhr, Do 10 – 21 Uhr, bis 23. Oktober. Katalog (Hatje Cantz Verlag Berlin) 38 Euro.