Am 26. Juni waren das Sinfonieorchester und der Männerchor der Philharmonie „George Enescu“ mit zwei bedeutenden Werken rumänischer und russischer Musik des 20. Jahrhunderts im Bukarester Athenäum zu hören. Es erklangen Dumitru Capoianus Violinkonzert (1957) sowie Igor Strawinskys Opern-Oratorium „Oedipus Rex“ (1927). Instrumentalsolist des Abends war der Geiger Gabriel Croitoru, Vokalsolisten die Sängerin Sidonia Nica, die Sänger Marius Vlad Budoiu, Valentin Vasiliu, Marius Boloş, Ionuţ Popescu sowie Vladimir Deveselu als Erzähler. Die musikalische Leitung hatte der aus Rumänien stammende Nicolae Moldoveanu inne, der als Dirigent mit zahlreichen bekannten internationalen sinfonischen Orchestern zusammengearbeitet hat und außerdem auch als Opernkapellmeister wirkt.
Das Werk, das im ersten Teil des Abends zu hören war, wurde im Rahmen der Reihe „Rumänische konzertante Werke“ dargeboten, mit der die Philharmonie „George Enescu“ das sinfonische Erbe rumänischer Kunstmusik pflegt und würdigt. Es handelte sich um das Violinkonzert des rumänischen Komponisten Dumitru Capoianu (1929-2012), der in den Jahren 1969 bis 1973 auch Direktor der Philharmonie „George Enescu“ war. Man kann seine Büste, die von der Bildhauerin Elena Surdu Stănescu geschaffen wurde, im Foyer des Athenäums bewundern, im Verein mit weiteren Porträtskulpturen, die Sergiu Celibidache, George Georgescu und [tefan Gheorghiu darstellen.
Dumitru Capoianu absolvierte Mitte des vorigen Jahrhunderts das Bukarester Konservatorium und war danach Violinist im Orchester des Bukarester Nationaltheaters. Anschließend wirkte er als Tonmeister und Musikregisseur beim Rumänischen Rundfunk. Schon bald entdeckte er seine Affinität zur Welt des Films. 1957 wurde ihm vom Internationalen Filmfestival in Cannes die Goldene Palme für seine Musik zu Filmen von Ion Popescu-Gopo verliehen. Neben Filmmusiken (über 80 an der Zahl!) schuf er sinfonische Musik, Vokalmusik, Kammermusik sowie mehrere musikdramatische Kompositionen (Ballett, Musical, Operette).
An seinem Violinkonzert kann man sehr schön den Charakter von Dumitru Capoianus musikalischem Schaffen studieren. Das Werk ist in mehrere Sätze gegliedert, aber im Grunde genommen ist es weit kleinteiliger, differenzierter, vielfältiger und wandlungsreicher strukturiert, sei es seinem musikalischen Stil, sei es seinen kompositorischen Ideen nach. Lyrische Passagen voller elegischer Innerlichkeit wechseln mit enormen Klangeruptionen des gewaltigen sinfonischen Orchesterapparats, behutsame Zwiegespräche von Violine und Tutti mit gemeinsamem Schwelgen in überbordender Tonfülle. Subtile Dialoge des Soloinstruments mit einzelnen Instrumenten oder Instrumentengruppen des Orchesters gehen über in ohrenbetäubendes Getöse und kehren gleichsam unbeeindruckt aus diesem wieder zurück. So tauchen auch die Töne der Violine immer wieder aus diesen sinfonischen Klangseen auf, in melancholischen Kantilenen, wilden Arpeggien, berauschenden Glissandi, gespickt mit allerlei violintechnischen Raffinessen, die ein jedes und so auch dieses Solokonzertmeisterwerk der Moderne auszeichnen.
Die Zugabe, ein „Lied ohne Worte“ betiteltes Opus für Violine und Orchester vom selben Komponisten, versetzte die Zuhörer dann in die Welt des Films, und man konnte sich, wenn man wollte, zum wortlos-klangvollen Aufschluchzen der Instrumente eine Filmszene vorstellen, die den aufwallenden Emotionen der musikalischen Komposition entsprach.
Nach der Pause gehörte die Bühne des Bukarester Athenäums Strawinskys zweiaktigem Opern-Oratorium „Oedipus Rex“, dessen Libretto der Komponist zusammen mit dem französischen Dichter Jean Cocteau verfasst hat. Die Texte des Erzählers, der in das Werk einführt und das Geschehen bis zum Schluss kommentierend begleitet, sind in französischer Sprache gehalten. Das Bukarester Publikum konnte die vom Interpreten der Erzählerrolle, Vladimir Deveselu, selbst angefertigte rumänische Übersetzung genießen.
Neben der direkten Ansprache an die Zuhörer mittels der Erzählerfigur wartet das Werk mit einem zweiten Verfremdungseffekt auf. Die Texte, die vom Chor und von den Vokalsolisten vorgetragen werden, ließ Strawinsky zuvor ins Lateinische übertragen, in die Weltsprache der Antike und des Mittelalters, in der sie denn auch gesungen werden. Die Übersetzung besorgte seinerzeit der Theologe, Jesuitenpater und spätere Kardinal der römisch-katholischen Kirche Jean Daniélou.
„Oedipus Rex“ wurde 1927 in Paris konzertant, ein Jahr später in Wien szenisch uraufgeführt. Mit den Aufführungen in der Berliner Kroll-Oper unter Otto Klemperer im Jahre 1928 sowie in der Dresdener Staatsoper unter der Leitung des Komponisten im Jahr darauf eroberte das Werk seinen kanonischen Rang auf dem Gebiet moderner sinfonischer Vokalmusik.
Dem Geist der sophokleischen Tragödie „Oidipos Tyrannos“ (König Ödipus) gemäß kommt dem Chor des Strawinskyschen Musikdramas genauso viel Gewicht und Bedeutung zu wie den einzelnen Protagonisten. Noch bevor es klanglich erfahrbar werden konnte, war dieses musikalisch-dramatische Faktum bereits optisch auf der Athenäumsbühne präsent. Die Chorsänger waren sämtlich auf die beiden die Bühne rahmenden Seitenlogen verteilt, die sie mit beherrschender Sichtbarkeit zur Gänze füllten. Sie flankierten also den Erzähler, die nacheinander auftretenden Vokalsolisten sowie das gesamte Orchester und sorgten, durch ihr spezifisches räumliches Arrangement, für einen interessanten musikalischen Stereoeffekt.
Strawinskys Opern-Oratorium hatte großen Einfluss insbesondere auf die deutsche sinfonische Vokalmusik, etwa auf Kompositionen von Paul Hindemith oder Carl Orff. Aus zahlreichen Chorpassagen von „Oedipus Rex“ konnte man bereits die klangliche Welt der „Carmina Burana“ heraushören, die freilich erst ein Jahrzehnt später entstanden sind.
Zu den Höhepunkten der Bukarester Aufführung zählten, neben der überwältigenden Präsenz des von Iosif Ion Prunner einstudierten Chors der Philharmonie „George Enescu“, die Arien „Respondit deus“ (Valentin Vasiliu als Kreon), „Dicere non possum“ (Marius Boloş als Teiresias), „Oracula mentiuntur“ (Sidonia Nica als Jokaste), „Oportebat tacere“ (Ionuţ Popescu als Hirte), „Natus sum quo nefastum est“ (Marius Vlad Budoiu als Ödipus) sowie das Duett von Ödipus und Jokaste im ersten Teil des zweiten Aktes. Musikalisch am beeindruckendsten war vielleicht das „Gloria“ des Chores, das den ersten Akt beschloss und den zweiten, als habe es in der kurzen stillen Pause zwischen den Akten weiter geklungen, volltönend eröffnete. Ein schöner Abend für die Musik der klassischen Moderne, der allenfalls durch die vielen frei gebliebenen Plätze im Zuhörerraum des Athenäums ein wenig getrübt wurde.