Elefanten sieht man nicht. Das gilt zumindest in Barenburg, dem verschlafenen Städtchen, wo Mascha jedes Jahr die Sommerferien bei ihren Großeltern verbringt. Denn es kann nicht sein, was nicht sein darf und wenn es doch so ist, dann sieht man besser nicht hin... In Barenburg, da sind sich die Einwohner einig, hat alles seine Ordnung. Dort wohnen anständige Leute, versichert auch die Großmutter, man kennt sich schließlich schon ein Leben lang. Und wer erst später zugezogen ist, existiert einfach nicht für die Alteingesessenen. Die größte Herausforderung in Barenburg besteht darin, die Rasenränder der Vorgärten mit den Hortensien schön säuberlich zu trimmen, be-obachtet Mascha.
Kein Wunder, dass sich die 13-Jährige in den Ferien entsetzlich langweilt. So begnügt sie sich damit, auf den Spielplatz zu gehen, für den sie eigentlich schon viel zu groß ist. Dort hockt sie hoch oben in der schattigen Holzburg, beobachtet die Kinder und hört die Lieblingsmusik ihres Vaters: Leonard Cohen. Stoisch ergibt sie sich dem öden Alltag, unterbrochen von großelterlichen Grillfesten. Sie könnte Nachbarin Trautchen besuchen, Frau Jenssen oder Herrn Benrath, der ihr immer Kaffee mit echter Sahne verspricht – alles hochanständige Leute, meint die Oma. Doch keiner unter siebzig.
Erst als Mascha eines Tages Julia und Max begegnet, bemerkt sie, dass hinter der beschaulichen Fassade doch etwas brodelt. Etwas Unfassbares, Unerhörtes, das jedoch niemand sieht - das keiner sehen will, auch nicht die Großeltern, obwohl es so offensichtlich ist, als liefen Elefanten im hellen Sonnenlicht mitten durch die Straßen! Mascha versucht, die Menschen um sich wachzurütteln. Vergeblich. Die Oma mauert offen, der Opa brummt nur, wie immer, er sagt ohnehin selten ein Wort. Selbst der Papa vertröstet sie am Telefon. In einem sind sich alle einig: Es kann ja nicht sein, was Mascha da von den Brandtner-Kindern behauptet! Die Brandtners sind anständige Leute, sie haben ein Autohaus, jeder kennt sie schon ewig – und naja, so mancher weiß auch, dass der Christian Brandter mal ein bisschen laut wird, ein bisschen cholerisch ist, so war doch schon sein Vater...
Elefanten sieht man nicht
Und wenn man doch einmal einem begegnet, dann steht er da, groß und bedrohlich, Mascha kann nicht einfach wegsehen! Nicht nur, weil der kleine Max selbst so dick ist wie ein Elefantenbaby, weil er manchmal gegen seinen unsichtbaren Freund, den Pablo, kämpft, den er dann offenbar fürchterlich vermöbelt und sich dabei die Seele aus dem Leib schreit - mein Gott, woher hat er diese Ausdrücke? Vergeblich stellt sich die dünne Julia schützend vor den kleinen Bruder, links und rechts von den Julia-Rändern schaut immer noch genug Max hervor.
Erst hat Mascha Julias Bauch gesehen. Nur ganz kurz, aus Versehen, schnell hat diese das langärmelige T-Shirt, das sie auch im Hochsommer trägt, wieder runtergezogen. Und irgendwann hat sie auch Max gesehen – den ganzen Max. Den Rücken. Den Po. Die Füße. Rot! „Wirklich, ich bin niemand, der andere Menschen umarmt, das hatte mir keiner beigebracht, aber in diesem Moment, in dem ich Max’ Körper sah, in diesem Moment hätte ich das am liebsten getan. Ich hätte Max am liebsten umarmt, und ihn so sehr an mich gedrückt, dass keiner es mehr wagen würde, ihm etwas anzutun, keiner.“
Mascha wittert Gefahr für die Kinder – und handelt! Tut genau das Falsche – aber ist es nicht manchmal besser, das Falsche zu tun als gar nichts? Verstrickt sich in Lügen. Muss stehlen. Stellt fest, dass sie nicht einmal in Max und Julia Verbündete hat! Also noch mehr Lügen. Verzweifelt versucht Mascha, ein bisschen Glück in das Dasein dieser Kinder zu zaubern. Bunte Picknickdecke, Zuckerwatte, Nagellack, Lachen. Für Momente scheint es zu gelingen. Dann muss sie plötzlich wieder lügen - oder rasch auf unerwartete Malheurs reagieren: eine Hose für Max beschaffen, ein neues Laken... Manchmal überwältigt sie dabei Traurigkeit. Oder grenzenlose Wut!
Es gibt aber auch Momente der Wahrheit: In dem blauen Haus im Kornfeld nimmt Julia ihr danach ein Versprechen ab. „’Wehe’, flüsterte sie und ich konnte hören, wie ihre Stimme dabei bebte, ‘wehe du sagst irgendjemandem, was du gesehen hast’.“ Sonst würde etwas ganz Fürchterliches passieren, sagt Julia, und das will Mascha auf keinen Fall! Während ihr auf einmal die Aussichtslosigkeit der Lage bewusst wird, in die sie sich und die beiden verstrickt hat, nehmen die Ereignisse in der Außenwelt rasant an Fahrt auf...
Irgendwann bricht das Kartenhaus zusammen. Die Großeltern sind schockiert, die Nachbarn zeigen jetzt mit dem Finger auf sie. Polizei im Haus, die Zeitung berichtet über „Mascha W.“. Die Oma klagt: Wie konnte sie ihnen das nur antun? Sonst spricht sie kein Wort mehr mit ihr. Doch das Mädchen schweigt beharrlich. Zu schlimm ist das Geheimnis, das Julia ihr anvertraut hatte. Nie, nie würde sie ihr Versprechen brechen und jemanden in so schreckliche Gefahr bringen! Auch wenn die Kinder sie vielleicht jetzt hassen...
Als Mascha sich unendlich alleingelassen fühlt, wacht der Großvater aus seiner Starre auf. Und auf einmal, spürt Mascha, wird vielleicht doch noch alles gut.
Susan Kreller, geb. 1977 in Plauen (ehemalige DDR), ist Schriftstellerin, Journalistin, Übersetzerin und Literaturwissenschaftlerin. Seit 2008 lebt und arbeitet sie in Bielefeld. Ihr Jugendbuch „Elefanten sieht man nicht“ wurde 2013 für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert. Auch ihr Pubertätsroman „Schneeriese“ schaffte es auf die Auswahlliste und gewann den Preis 2015. In ihrem Jugendroman „Elektrische Fische“ aus dem Jahr 2019 verarbeitet sie in Anspielungen ihre Erfahrungen aus der DDR und von der Wende im vogtländischen Plauen.