Im Frühjahr 2022 ist der Roman „Das Grab von Ivan Lendl“ von Paul Ferstl erschienen, der in der Subkultur österreichischer Zivildiener in Rumänien und der Ukraine spielt. Nachdem der Autor von der Universität Pécs eingeladen wurde, im November 2022 aus seinem Roman zu lesen, war er vor Kurzem Gast des Departments für germanische Sprachen und Literaturen der Fremdsprachenfakultät an der Universität Bukarest, wo im Dezember 2023 eine Online-Lesung stattfand. Aus diesem Anlass führten Prof. Dr. Mariana Lăzărescu, Leiterin der Österreich-Bibliothek „Hugo von Hofmannsthal“ Bukarest, und die OeAD-Lektorin Mag. Helena Haid ein Gespräch mit dem Autor.
Mariana Lăzărescu (ML): Herr Ferstl, Ihr Roman ist beim Publikum auf großes Interesse gestoßen. Ein Beweis dafür sind die vielen Rezensionen, die in der Wiener Zeitung, im Kurier oder beim Literaturhaus Wien veröffentlicht wurden. Auf Ö1 wurde der Roman im Magazin Ex Libris, auf Radio Vorarlberg Kultur oder auch in den Ö1 Radiogeschichten präsentiert. Links zu Rezensionen, Interviews usw. können Ihrer Website entnommen werden. Der Roman wurde 2022 mit Unterstützung des Rumänischen Kulturinstituts in Wien im Rahmen der Buch Wien präsentiert. Warum glauben Sie, dass der Stoff Ihres Romans so attraktiv ist?
Wenn authentisch von der Verantwortung erzählt wird, die Menschen füreinander übernehmen, oder auch einander verweigern, dann können dadurch viele Leute angesprochen werden - und wenn das Setting des Romans, also Zivildiener im Ausland, zudem ein wenig Bekanntes ist, hat die Erzählung zugleich den Reiz des Fremden.
Helena Haid (HH): In Ihrem Roman stirbt der ehemalige Zivildiener Ivan bei einem Unfall während eines Wiederaufbauprojekts in Rumänien. Sein Kumpel Pich will herausfinden, wie Ivan in den letzten Jahren gelebt hat. Als Ivans Schwester Ivanka auch nach Rumänien kommt, beginnen die beiden eine gemeinsame Reise durch das Land. Ihr Roman handelt von jungen Menschen in einem ihnen fremden Land, die sich plötzlich einer Verantwortung stellen müssen, der sie kaum gewachsen sind, von sexueller Gewalt unter Männern in prekären Lebensumständen und von der Macht und Ohnmacht des Schweigens. Der Roman beginnt also mit dem Tod bzw. am Grab des namengebenden Ivan Lendl. Danach folgen Zeitsprünge in die Zeit, als Ivan noch am Leben und Teil der Zivildienergemeinschaft war. War von Anfang an klar, dass Sie in diesem Roman einem nicht-linearen Erzählstil folgen werden? Was sind für Sie die Vorteile eines solchen Erzählstils?
Das Erinnern und die Erinnerung üben eine große Faszination auf mich aus – vor allem das Wechselspiel zwischen der Erinnerung, die unsere Gegenwart gestaltet, und dem ständig von Neuem stattfindenden Erinnern, das unseren Blick auf die Vergangenheit verändert. Unsere persönlichen Vorstellungen von Gegenwart und Vergangenheit sind gleichzeitiger Teil unseres Bewusstseins, sind also kein Nacheinander, sondern ein Nebeneinander, oder besser noch ein Ineinander. Das habe ich versucht – schon von Beginn des Schreibprozesses an – literarisch zu veranschaulichen, und die Leser und Leserinnen, auch in ihrem eigenen Lesen, an diesem Prozess der sich verändernden Erinnerung teilhaben zu lassen.
ML: Von 2005 bis 2006 leisteten Sie Zivildienst in Rumänien ab. Gibt es autobiografische Merkmale in der Typologie der Zivildienergestalten Ihres Romans?
Mythenumrankte Pioniere, Drückeberger oder etwa Musterschüler kennen wir alle aus ganz unterschiedlichen Subkulturen und Berufsgruppen, und sie sind natürlich auch unter Zivildienern zu finden. Der eine oder andere „Typ“ davon ist mir in meiner eigenen Zivildienstzeit begegnet, in welche Kategorie ich gefallen bin, müssen andere beurteilen.
HH: Haben Sie Rumänien nach Ihrem Zivildienst als Teil Ihrer Recherche für den Roman ein weiteres Mal besucht oder haben Sie sich hauptsächlich auf Ihre Erinnerungen vom Aufenthalt in den Jahren 2005 und 2006 bezogen?
Der Roman bezieht sich hauptsächlich auf meinen Aufenthalt zwischen 2005 und 2006. Ich hatte während des Verfassens die Absicht, Rumänien auch sozusagen „rein literarisch“ zu besuchen, leider hat die Pandemie die damals geplante Reise kurzfristig verunmöglicht.
ML: Welcher Gattung würden Sie Ihren Roman zuordnen?
Gerne würde ich den Roman als einen Vertreter des österreichischen Zivildienstromans bezeichnen, leider gibt es dieses Genre nicht – oder zumindest keinen öffentlichkeitswirksamen Diskurs dazu. Der Zivildienst erfährt meines Erachtens in Österreich – ich nehme an aus Bequemlichkeit und Scham – sehr wenig Aufmerksamkeit und Reflexion, obwohl ihn so viele Menschen leisten, und so viele davon profitieren. Davon abgesehen weist der Text sicherlich einige Merkmale auf, die wir dem Roadmovie, dem Krimi, der Prekariats- und Reiseerzählung oder auch dem Coming-of-Age-Roman zuschreiben.
HH: Ivan und Ivanka, Keanu Reeves, Dr. Richard – das sind nur einige (Spitz)Namen der Charaktere im Roman. Welche Bedeutung hat die Namensgebung der Charaktere in Ihrem Roman und welche Bedeutung haben insbeson-dere Spitznamen für Sie persönlich?
Spitznamen sind Zeichen von Intimität und Vereinnahmung, Identität und Abgrenzung. Im Falle meines Romans sind sie auch Hinweise auf Privilegien, Lasten und Zuschreibungen, mit denen die Figuren leben müssen – etwa die Klassenzugehörigkeit bei Dr. Richard, das Äußere im Falle von Keanu Reeves, oder das hochprekäre Familienleben, das die Geschwister Lendl lebenslang geprägt hat.
ML: Wir würden uns freuen, auch Ihre beiden anderen Romane, „Der Knoten“ (2014) und „Fischsitter“ (2018) in unserer Österreich-Bibliothek zu haben und zu lesen. Ich nehme an, Sie arbeiten schon an anderen Buchprojekten. Sind in der Sprache Ihrer Romane viele österreichische Ausdrücke, sogenannte Austriazismen, vorhanden?
Ja. Meine Themen sind, wie ich hoffe, international anschlussfähig, doch die Menschen, von denen ich erzähle, leben oder stammen in der Mehrzahl aus Österreich. Ihre Sprache ist zumeist das Österreichische – und meine Sprache ist es auch.
Wir danken für das Gespräch und erwarten Sie immer gern an unserer Uni.
Auch ich bedanke mich für die Einladung und das Gespräch!
Paul Ferstl lebt als Schriftsteller in Wien. Geboren wurde er 1981 in Leoben, wo er auch aufwuchs. Ferstl studierte Vergleichende Literaturwissenschaft und Germanistik in Wien und Brüssel. Im Jahr 2005 absolvierte er seinen Zivildienst in Rumänien. Seit 2006 ist er in der wissenschaftlichen Lehre an der Universität Wien tätig und von 2012 bis 2015 im Rahmen der sogenannten „Anamnesegruppen“ auch an der Medizinischen Universität Wien. Außerdem war er zwischen 2006 und 2010 Mitarbeiter des Allgemeinen Entschädigungsfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus. Ferstl ist zudem Gründer des wissenschaftlichen Verlags Ferstl & Perz (2012), war Leiter des Wiener Büros des Peter Lang Verlags (2018-2019) und in der Provenienzforschung an der Universität Wien – FWF-Projekt Ludwig Tiecks Bibliothek – tätig (2014-2022).