Samstagabend in Bukarest. Wir gehen zu Fuß vom Unirii-Platz Richtung Traian-Straße. Wir suchen die Nummer 107, da, wo eine kulturelle Veranstaltung namens „Nocturna cu pistrui“ (deutsch Nachtveranstaltung mit Sommersprossen) stattfindet. Was das bedeuten soll, wissen wir auch nicht, aber wir wollen es erfahren.
Vor dem Haus mit der Nummer 107 gibt es einen aus Plastik und waagerechten Latten improvisierten Zaun. Kein guter Ersteindruck. Wir gehen durch das Tor hinein und entdecken den Hof, wo eine unkonventionelle Atmosphäre herrscht: Herumlaufende Menschen mit kindlichem Lächeln im Gesicht, gute Musik und riesige Seifenblasen, die jeder Gast aus einem Eimer mithilfe von zwei langen Stäben formen kann. Interessant zu erfahren, was sich hinter einem so schäbigen Zaun versteckt.
Zurzeit findet im hinteren Teil des Hofes, wo sich die meisten versammelt haben, eine Aikido-Präsentation statt. Die defensive japanische Kampfkunst fasziniert alle Schaulustigen. Danach geht eine Liste von Hand zu Hand, sodass sich die Interessenten für die Aikido-Werkstatt einschreiben können. Die nächste Präsentation findet in der Mansarde statt, wo ein Teppich aus echtem Gras die ganze Oberfläche bedeckt. Man sitzt also auf dem frischen Gras und lernt, wie man ein Häschen aus einer Socke basteln kann. Auf diese Weise funktioniert die „Nacht mit Sommersprossen“, eine Art interaktive Party: Man lernt ständig etwas Neues. Weitere Präsentationen der Werkstätten für den folgenden Monat stehen an. Man kann hier vieles lernen: Yachting, Gitarrespielen, Jonglieren, Massage oder eben, wie man Spielzeuge aus Socken bastelt. Es ist ein Präsentationsmarathon – die Gäste können alles ausprobieren und besuchen dann die bevorzugten Werkstätten.
Die Initiatorin
Ştefana Popa, die Initiatorin, bewegt sich flink unter den Gästen. Sie ist mal hier, mal da, es fällt einem schwer, sie festzuhalten. Die Frau mit Unternehmungsgeist erklärt das Konzept und den Kontext des Projektes „incubator107“. Von Anfang an ist es klar, dass sie eine sehr leidenschaftliche Person ist. Die zwei Bachelor-Abschlüsse und das Studium in Paris reichten ihr nicht aus, sie wollte etwas anderes. Sie hat die kulturelle NGO „Macaz“ gegründet und „incubator 107“ auf den Weg gebracht, das ist das größte und erfolgreichste Projekt der Organisation. Mit der Welt heutzutage ist Ştefana nicht zufrieden. Ihre Absicht ist es, eine eigene Welt zu schaffen, die von anderen Regeln und Werten regiert ist. Hier gibt es keinen Wettbewerb, sagt sie, sondern nur Großzügigkeit. Man lehrt und lernt. Da sie ihre Mutter verloren hat, wollte sie den Kreis der Familie wiederherstellen, und dieses Projekt war die beste Weise, das zu verwirklichen. Es gibt fünf ursprüngliche „incubator“-Mitglieder, die zusammen unter einem Dach wohnen. Sie koordinieren die Aktivitäten von „incubator107“ und sind wie eine Familie, die aber immer größer wird: Die sogenannten „Meister“ sind leidenschaftliche Menschen, die einfach ihre Spielzeuge mit den anderen teilen wollen. Jeder kann ein Meister sein – man kann einfach einen Vorschlag per E-Mail schicken.
„incubator107“ und die Gemeinschaft
„incubator107“ ist ein Zentrum für alternative Erziehung, hier werden täglich Werkstätten mit soziokultureller Thematik gehalten. Mehr als 1000 Menschen, die voneinander lernen und Kenntnisse weitergeben, haben im Laufe eines Jahres daran teilgenommen. Für den kulturellen Verein stehen die Menschen im Zentrum. Es geht nicht unbedingt um Künstler oder Kultur, erklärt [tefana. Nur um Menschen, die das Gelernte weitergeben wollen. Großzügigkeit und Volontariat liegen dem Projekt zugrunde.
Deshalb wurde das Projekt immer größer und Ştefanas Haus immer voller: Hier fanden seit April 2011 ungefähr 200 Workshops statt. Jeden Monat eröffnet die „Nacht der Werkstätten“ eine neue Reihe von rund einem Dutzend Workshops. Die Lehrlinge spenden eine kleine Summe Geld, damit die notwendigen Materialien gekauft und die Unterhaltskosten des Gebäudes gedeckt werden. Einen Teil davon bekommt auch der „Meister“, der dank seiner Nebenbeschäftigung auch ein wenig Geld verdienen kann. Das ist ein sehr gutes Beispiel von unternehmerischer Sozialinitiative.
Keine Werkstatt hat zweimal stattgefunden. Die Werkstätten sind in sechs kreative Bereiche eingeteilt, die im „incubator107“ Zünfte genannt werden: die Zunft der Sporttreibenden (rumänisch „breasla mişcătorilor“– das sind diejenigen, die sich mit Sport, Tanzen und Kampfkünsten beschäftigen), der Hedonisten (Essen, Massage und anderes), der Zauberer (Tarot, Feng-Shui, Numerologie, Magie und Meditation), der Redner (rumänisch „glăsuitori“ – Theater, Reden, Psychologie, Musizieren). Eine andere Gruppe arbeitet im virtuellen Bereich (Foto, Video), außerdem gibt es noch die Zunft der Schmiede (Handwerk und Raumgestaltung).
Ein neues„Kulturhaus“
„Das, was ich gerne mache, kann ich auch dir zeigen“ – das ist der Kern des Projektes, aber „incubator107“ ist mehr als eine Plattform für Werkstätten, es basiert auf Austausch, freiwilliger Arbeit und Spenden. Dadurch ist eine dynamische und starke Gemeinschaft entstanden. Sie besteht aus den „Meistern“, die Werkstätten vorschlagen und betreuen, den Volontären, die bei der Organisation der Werkstätten helfen, und denjenigen, die das Projekt unterstützen und daran teilnehmen. Auf diese Weise soll ein landesweites Netzwerk entstehen, denn „incubator107“ schafft ein lebendes Netz von Zentren für informelle Erziehung, die durch Erfahrungsaustausch und Veranstaltungen miteinander kommunizieren. „Incubator107“ breitete sich in Jassy/Iaşi, Klausenburg/Cluj, Temeswar/Timişoara aus. Hermannstadt/Sibiu und Kronstadt/Braşov werden folgen.
Das alte Konzept „Kulturhaus“ wird wieder belebt: Aber dieses Mal schlägt die Gemeinschaft die Werkstätten vor und unterstützt sie finanziell. Das Kulturhaus ist nun der Raum der Gemeinschaft, in dem sich die Mitglieder im Geist der Großzügigkeit, des Austausches und der Ökologie ausbilden. Die Aktivitäten sollen bei den Teilnehmenden die Neugierde reizen, ihre Fähigkeiten und Talente entfalten.
Geplant wurde, ökologische Dörfer aufzubauen, die als erzieherische und gesündere Alternative zu den Städten bestehen. In den Dörfern sollen Räume für Studiencamps und künstlerische Niederlassungen errichtet werden. Langfristig hat sich „incubator107“ als Ziel gesetzt, die Mentalität und das Verhalten der Städter zu verändern – sie werden ihr soziales Leben verbessern, indem sie das Gleichgewicht zwischen Arbeit und Leidenschaft finden. Einen gesünderen Lebensstil in enger Verbindung mit der Umwelt zu fördern, gehört zu den Hauptzwecken des Projektes.
Ein Sommercamp in Hohndorf
Um die Teams aus Bukarest, Jassy, Klausenburg und Temeswar zu vereinheitlichen, wird die Teilnahme der Mitglieder aus den verschiedenen Städten an Festivals oder ähnlichen Veranstaltungen ermutigt. Mit demselben Zweck wird auch ein ökologisches Sommercamp organisiert, sodass die Teilnehmer sich die Prinzipien einer nachhaltigen Lebensweise aneignen können.
Das Sommerlager dauert vier Tage und findet zwischen dem 27. und 31. Juli im einst siebenbürgisch-sächsischen Hohndorf/Viişoara statt. Eingeladen werden 30 Teilnehmer, 15 aus Bukarest und fünf aus jeder Stadt, wo es „incubator107“ gibt. Die Teilnehmer werden am Dorfleben als Volontäre teilnehmen. Die ganze Gruppe wird in vier Kategorien eingeteilt: Eine kümmert sich um Pflanzen, die nächste um die Tiere, die Köche bereiten vegetarisches Essen für die ganze Gruppe zu, die sogenannten Handwerker beschäftigen sich mit Kunst, Tanz, Liedern. Die Anwesenden werden jeden Tag einer anderen Zunft zugeordnet.
Das ökologische Dorf
Ein größeres Projekt für die Zukunft ist das ökologische Dorf. Da wird keiner leben, nur vorbeikommen, um zu lernen. Eine ökologische Lebensart wird beabsichtigt. Es wird erklärt, was es bedeutet, Kontakt zu der Natur und den anderen Menschen zu haben. Man lernt, wie man einen Garten pflegt, und entdeckt einen neuen Lebensstil. So etwas kann man von den Menschen lernen, die sich da zeitweilig aufhalten. Jeder, der vorbeikommt, soll etwas lehren. Werkstätten werden spontan stattfinden, spontan bildet sich auch die ganze Gemeinschaft.
Wahrscheinlich wird sie aus Reisenden, Touristen, Volontären bestehen. Man lernt durch Handeln, alles geschieht in einem ländlichen „incubator107“, wo man sich viel besser konzentrieren kann. In der Stadt würde das nicht gehen, da hier die Bedingungen für eine lebensverändernde Erfahrung fehlen. Aber vorher müssen eine Ortschaft und Experten gefunden werden, sagt Ştefana zum Schluss.
Wirklichkeit oder Utopie? Die Zeit wird es zeigen.