Was verbindet Südosteuropa und den Nahen Osten im Blick auf Bilder? Auf den ersten Blick recht wenig. Umso interessanter präsentieren sich die Ergebnisse einer Studie des Südosteuropa-Historikers Karl Kaser, der die Religionen und Konfessionen wie auch die Kulturen dieser Region „Kleineurasien“ einem Vergleich hinsichtlich ihrer religiösen und weltlichen Imagologie unterzieht. Dabei entsteht eine komparative Kulturgeschichte des Bildes und der Visualisierung.
Es ist äußerst erfreulich, dass Kaser anstrebt, Kulturen in ihrer Eigendefinition und Selbstwahrnehmung zu würdigen. Er hält fest: „Visuelle Kulturstudien und Theorien stülpen der Welt vielfach noch immer Konzepte der westlichen Moderne und Postmoderne über, nehmen die restliche Welt also lediglich selektiv wahr und ignorieren deren regionale Sehtraditionen.“
Kaser führt gleich mehrere Entwicklungslinien vor Augen und macht deutlich, dass Bilder in der Antike und im Mittelalter wesensgleich und wesensähnlich mit dem Urbild sind, während sie in der Neuzeit vor allem repräsentieren und imitieren. Wobei sich diese ursprüngliche Linie etwa im orthodoxen Ikonenverständnis bis heute durchzieht. Mit der Erfindung und der Verbreitung des Massendrucks und der Fotografie kommt es zur Möglichkeit endloser Kopien, zuletzt noch übertroffen vom digitalen Bild, das manipuliert werden kann. Kaser zieht seine Untersuchung bis in jüngste Zeit aus. Seien einerseits die sozialistischen Visualisierungen in der Wendephase 1989 gefallen, so stünden seither eine wiedererstarkende Balkanorthodoxie und ein revitalisierter Balkanislam heute säkularen Staaten gegenüber.
Es gelingt Kaser in seiner spannenden Studie, diese Entwicklungen an Epochen, Regionen und auch Religionen entlang zu verdeutlichen. Historische Brüche wie etwa die Säkularisierung und der zeitweise Verlust religiöser Dominanz im öffentlichen Raum mit dem damit verbundenen Wandel in den Kulturen kommen dabei ebenso in den Blick wie Gegenbewegungen dazu. Hintergründig schildert Kaser jeweils auch religiöse Prägungen vom bilderfeindlichen Judentum über den bildskeptischen Islam bis zur bilderfreundlichen Ostkirche. Hier stellt er theologische Grundlagen ebenso dar wie den entsprechenden kulturgeschichtlichen und historischen Kontext. Er skizziert auch kulturelle Werte und Normen, die die Medienrezeption bestimmen.
Als Archetyp des Bildes beschreibt er die Totenbilder der Antike: „Das Bild diente einerseits der Erinnerung an den Verstorbenen, andererseits schuf es eine reale Präsenz der Verstorbenen unter den Lebenden.“ (S. 47). Im gesamten Alten Orient machten dann Götter- und Herrscherbilder einen wesentlichen Bestandteil des religiösen Kults aus. Die politischen Liturgien der kommunistischen Diktaturen sollten später wieder Herrscherbilder fast kultisch verehren, wie Kaser am Beispiel des rumänischen Diktators Ceau{escu vorführt. Für Platon wiederum war aufgrund seiner Ideenlehre jede Visualisierung nur eine Nachahmung der Idee und des Wesentlichen. Im Römischen Reich waren Bilder und Skulpturen allgegenwärtig.
Es blieb der Ostkirche vorbehalten, die „Gleichberechtigung des heiligen Bildes mit dem heiligen Wort“ zu erkämpfen (S. 61), wovon der orthodoxe Bilderreichtum in Rumänien und Südosteuropa bis heute zeugt. Hier zeigten sich später wieder Unterschiede zwischen den Kirchen: während im Westen eine massenweise Produktion an Heiligenbildern einsetzte, stand die Ostkirche dem Bilddruckverfahren wegen der Sakralität der Ikone lange skeptisch gegenüber. Ab der Renaissance kam es im Westen zu einer Desakralisierung des Bildes, für Klein-eurasien setzte dieser Prozess erst im 19. Jahrhundert ein.
Kaser stellt das Verhältnis des Judentums, des Christentums und des Islams zum Bild differenziert dar. Er macht deutlich, dass frühe Bildskepsis historisch meist in Abgrenzung zur Umgebung begründet war und Bilderverbote meist gegen Götzenverehrung gerichtet waren. Die islamische Kunst war lange von abstrakten Blumenmustern, geometrischer Kunst und Kalligrafie dominiert, Malerei galt der muslimischen Bevölkerung der Balkanprovinzen als „ein Werk des Satans“ (S. 91). Wobei im 19. Jahrhundert die Sultane durch Porträts das strenge Bilderverbot ab 1835 aufweichten.
Zur bilderfreundlichen Ostkirche entwickelt Kaser eine Kulturgeschichte der Ikone, die gerade in Rumänien allgegenwärtig zu besichtigen ist. Bei der Ikone erreicht die Verehrung des Heiligenbildes den Heiligen selbst. „Die Herstellung einer Ikone wurde zu einem liturgischen Akt; die Malermönche bereiteten sich durch Fasten und Buße auf den Akt vor. Ikonen waren (…) nicht Produkt der Vorstellung eines Künstlers, sondern eine Manifestation himmlischer Archetypen. Sie erzeugten ein Fenster zwischen der weltlichen und himmlischen Welt. (…) Durch das Fenster der Ikone zu blicken bedeutete, direkt in die himmlische Welt zu blicken.“ (S. 111)
Kaser skizziert die Stationen des Bilderstreits bis hin zum entscheidenden Konzil von Nizäa von 787. Wobei Verehrung auch Heiligen und Ikonen zukommen darf, Anbetung aber nur Gott. In der Westkirche entfernte sich die Kunst vom ostkirchlichen Urbild-Abbild-Verständnis. Das Bild wurde zu einem Schöpfungsakt des Künstlers in großer künstlerischer Freiheit. Im Osten kam die Lösung der Kunst von der Religion erst rund 500 Jahre später.
Ausführlich geht Kaser auf die Entwicklung der Fotografie ein. Er spricht von einer „visuellen Revolution“ im Westen um die Mitte des 19. Jahrhunderts. „Sie schuf ein neues visuelles Vergnügen und hatte kommerzielles Potenzial“ (S. 134). Auch hier zeigen sich wieder große Unterschiede, etwa in der Rezeption von Kino und Film. In den Ländern des Nahen Ostens besuchten christliche Familien Filmvorführungen, während dies für die muslimische Bevölkerung lange tabu war. In Bukarest und Athen fanden 1896 die ersten Filmvorführungen statt, in Sofia und Russe 1897. Die bedeutendsten Filmproduktionen setzten in Rumänien und Serbien ein. Die Staaten der Arabischen Halbinsel hingegen schotteten sich bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts von westlichen kulturellen Einflüssen ab. „Während etwa die erste Filmvorführung in Bukarest oder Belgrad wenige Monate nach der weltweit ersten Filmvorstellung erfolgte, ist das Kino in Saudi-Arabien noch heute nicht erlaubt.“ (S. 152)
Kaser beschreibt in seiner umfangreichen Studie weiter den Zusammenhang von Bildern und Image, er konkretisiert dies bis hin zu Bram Stokers „Dracula“-Roman und Filmen wie „Nosferatu“, „Zorbas, der Grieche“ oder „Schwarze Katze, weißer Kater“ von Emir Kusturica, bei dem der Balkan „mit Vergnügen, Krisen und paradoxen Lebensumständen gleichgesetzt wird. Er steht für Farbenfrohheit, Freiheit, Temperament, Leidenschaft und Schönheit. Die Balkanmenschen vergnügen sich in einzigartiger Weise an der Musik und erfreuen sich an orgiastischen, dionysischen und offenbar unbegrenzten Feierlichkeiten. Sie können jedoch auch in tiefe Traurigkeit verfallen.“ (S. 200)
In die „semisäkulare“ Gegenwart führen die abschließenden Kapitel. Hier geht Kaser auf die bürgerliche, dann die sozialistische Moderne dieser Länder ein und zeigt dabei auch auf, wie Kunst, Fotografie und Film einerseits emanzipatorischer Selbstvergewisserung, historischer Legitimierung und Identitätsfindung nach der Loslösung vom Osmanischen Reich 1878 dienten, andererseits im Sozialismus ideologischen Zielen und dem Führerkult wie etwa bei Ceaușescu.
Einerseits kommt Kaser zu dem Fazit, dass alles in Richtung Globalisierung zu drängen scheint: „kulturspezifisches Sehen und die traditionell-religiös strukturierten visuellen Kulturen scheinen auszulaufen“ (S. 286). Andererseits hält er auch fest, „dass die Säkularisierungstheorie, wonach die Religion im Verlauf von Modernisierungsprozessen zunehmend an Relevanz verlieren würde, sich als nicht mehr haltbar erweist. (…) Wie es scheint, erweisen sich traditionelle Formen des Religiösen, der Religionen und der Religiosität als persistenter als angenommen – speziell in nicht-westlichen Kulturen. Die Soziologie geht heute nicht mehr davon aus, dass Modernität und Religiosität einander ausschließen.“ (S.291)
Karl Kaser legt eine ausgezeichnete Studie vor. Ein umfassendes Literaturverzeichnis (28 Seiten!) erlaubt dem Leser eigene Vertiefung. Zu monieren gibt es höchstens Petitessen. Die sehr eindrucksvollen Bilder hätten gerne etwas größer gedruckt werden können, manche kommen als Briefmarken daher. Und bei nach 1878 in Rumänien und Serbien in Kirchen oder Warenhäuser umgewandelte Moscheen (S. 207) erführe der interessierte Leser gerne konkrete Beispiele.