Aleatorik, so belehrt uns der Duden, ist in der modernen Musik eine zufällig und improvisiert wirkende Komposition, hinter der aber ein genaues Kalkül steckt, das den Zufall für seine Zwecke nutzt. John Cage würfelte und benützte das chinesische I Ging-Orakel, um seine Stücke immer wieder neu und frisch aufführen zu können – er hoffte damit, das musikalische Material zur tiefsten Kenntlichkeit zu bringen.
Aber heißt eine Person Aléa Torik? Wer im Netz recherchiert, stößt unter www.aleatorik.eu auf eine sehr ernsthafte und belesene junge Autorin, in deren Sätzen viel Humor und spielerische Koketterie aufblitzen. Es ist also mit einiger Sicherheit anzunehmen, dass Aléa Torik, 1983 im rumänischen Siebenbürgen geboren, nicht genau das ist, was sie zu sein behauptet.
Aber man glaubt ihr, wenn sie in ihrem Blog schreibt, sie setze sich sehr grundsätzlich mit „Identität, Authentizität und Illusion“ auseinander – schließlich hat sie gerade einen Roman darüber geschrieben. „Das Geräusch des Werdens“ ist nicht nur ein außergewöhnlich reifes und in makellosem Deutsch geschriebenes Debüt, sondern auch ein Wagnis. Denn seine Hauptfigur ist der blinde Fotograf Marijan, und der Roman kreist um seine Gefühle und Wahrnehmungen. Und um seine Herkunft aus dem rumänischen Dorf Mărginime – das ist die zweite, schicksalhafte Erzählebene.
Man könnte „Das Geräusch des Werdens“ auch als eine Schule der Empfindlichkeit lesen, denn Marijan kämpft trotzig und schamvoll mit seiner Blindheit, seit er als Zwölfjähriger sein Augenlicht verlor. Doch sind seine halb melancholischen, halb wütenden Wahrnehmungen Meisterstücke vorsichtiger Hoffnung.
Nachts, vor allem bei Regen, ist sein Lieblingsplatz am Fenster: „Ich höre ein sanftes Flüstern, ein leises Lachen, eine zerstiebende Gischt, eine Brandung, ein Meer, einen gewaltigen Sturm, eine Flutwelle. Manchmal ist der Regen verzagt oder verzweifelt, er ist verhalten oder besonnen, beschämt oder betreten. Und manchmal ist er einfach gleichgültig und die Tropfen fallen lediglich von oben nach unten. Ich stehe gebannt am offenen Fenster und höre, wie eine Umgebung entsteht, wie Gegenstände wachsen und werden.
In solchen Momenten wird der Raum, den ich oft nur als drückende Masse empfinde, die auf mir lastet, zu einer Umgebung und einem Gefüge, in das ich eingebettet bin.“
Seine Mutter war mit Marijan aus Mărginime geflohen, der Geisteskrankheit des Vaters wegen, aber auch, weil ein Behinderter dort keinen Platz hat. Das Dorf ist eine prekäre Idylle, abgeschnitten von der Welt und fern jeder Politik, die nur als Angst vor der Securitate manchmal nachhallt. Jeder lebt seine feste Rolle in diesem organischen Ganzen, und wer dort geboren wird, hat im Leben nur eine Entscheidung zu treffen: Bleiben oder Gehen.
Aléa Torik schildert diesen Ort so sarkastisch-liebevoll wie einen heimeligen Raubtierkäfig: Manche Menschen sind dort glücklich, aber sie wissen es nicht, und sie dürfen es auch nicht wissen, weil sie sonst sofort die Balance verlören. Es ist das Grundbild der Bukolik, das sie hier raffiniert inszeniert, und Marijan erscheint als Seelenbruder des unglücklichen Daphnis, der zur Strafe für seine Verführung einer Nymphe geblendet wird. Auch die Nymphe gibt es, sie heißt Krisztina und ist ein eben erblühendes, keckes Mädchen, das eines Tages spurlos verschwindet und nicht nur Marijan, sondern das ganze Dorf verstört zurücklässt.
Bedeutet es den Verzicht auf Glück wegzugehen? Oder verrät man seine Träume vom Paradies und von der wahren Schönheit, wenn man bleibt? Immer wieder stellt sich diese Frage im Roman und sie kreist immer dringlicher um sein leeres Zentrum: um Krisztina, die nie wieder auftaucht. Ihr Gesicht und ihr Körper beherrschen Marijans erotische Phantasie, umso mehr, als das seine letzten realen Bilder sind, bevor alles in einem Grauton versinkt. Doch die Frage nach Kriztinas Schicksal schlägt wie ein fehlgeleiteter Tennisball plötzlich mitten in Berlin auf, und auf geheimnisvolle Weise beginnen hier alle Fäden aus dem Dorf zusammenzulaufen.
Höchst spannend lesen sich diese mäandernden und tastenden Schicksalswege, und man fiebert mit den Figuren, die uns die Autorin immer wieder entzieht und erst viele Kapitel später scheinbar zufällig auftauchen lässt – man freut sich, als träfe man einen lang vermissten Freund auf der Straße. Maddox ist so einer, der übergroße Empfindsamkeit hinter grotesken Maskeraden versteckt, sich Sorgen um seine Kau- und Sprechwerkzeuge macht und durch die Gebisse spricht, die er sich über die Hände stülpt – damit ihm nur keiner in die Augen sieht. Je tiefer ihn etwas berührt, desto vorsichtiger wird er, so wie auch Marijan vor nichts mehr Angst hat als vor Intimität und in einer ungewöhnlichen, erotischen Szene von Leonie regelrecht überwältigt werden muss.
Was siehst du? fragt er sie immer wieder, und zwingt die Schüchterne zu einer ständigen Auseinandersetzung mit dem eigenen Blick. Schon die Existenz eines blinden Fotografen stellt eine ungeheure Provokation dar: Vielleicht findet er ja in seinen Bildern, die ausschließlich von den dramatischen Augenblicken zufälliger Begegnungen und von Geräuschen arrangiert werden, eine genauere, umfassendere Antwort auf unsere sichtbare Welt.
Marijans Angst vor der Ausstellungseröffnung, die den erzählerischen Rahmen des Romans bildet, ist berechtigt, denn werden die Besucher sehen, was er spürte? Ist es überhaupt möglich, dass sie seine Ohren- und Erinnerungsbilder, seine spezielle Suche nach Licht, die Richtungs- und Schwerelosigkeit seiner Figuren verstehen? Also erzählt er statt einer Ansprache so leidenschaftlich, als ginge es um sein Leben, von seinen Eltern, von der Lehrerin und Krisztina, seinen Freunden – man kann den ganzen Roman als diese ausufernde Eröffnungsrede lesen. Im letzten Kapitel, das wieder an den Anfang zurückführt, streiten sich die Besucher fast darüber, was sie gehört haben. Jeder behauptet etwas anderes, denn jeder hat, wie einen unbekannten inneren Kontinent, sein eigenes Mărginime im Kopf.
Zu recht nennt sich Aléa Torik eine Realistin im Gefolge der Postmoderne, denn ihre Figuren, die sie so behutsam schildert, als würde sie ihnen jeden Eigensinn zugestehen, bewegen sich mit tänzerischer Leichtigkeit durch die Stadträume. In einem der schönsten Kapitel, „Der Salon Sucre“, steht ein Liebespaar im Regen und küsst sich, es hat alle Zeit der Welt, denn es regnet von Mitte bis Piepertswinkel, auf die unzähligen Parks und Plätze, auf Bars und Krankenhäuser, auf Museen, Hutgeschäfte und Gefängnisse.
Diese mit viel Sprachwitz arrangierte Realität hat allerdings einen Riss, er ist beabsichtigt und kunstvoll gebaut: Es ist der Riss durch die Zeit. Vergangenheit und Tod stehen mitten in der Gegenwart, und jederzeit kann eines davon durch die Tür treten. In Gestalt von Lydija zum Beispiel, der Hellseherin, die ihre Familie, den Schuhmacher Ioan und den kleinen Sohn Nicolae verließ. Der wiederum war Marijans bester Freund, bis die Liebe zu Krisztina sie entzweite. Auf der Suche nach Lydija hatte Ioan seinen Schuhladen von M²rginime nach Berlin verlegt und jetzt führt sie ihn, ohne seine verzweifelten Fragen zu beantworten, durch unbekannte Straßen zu seinem Jugendfreund Valentin, dem Vater von Marijans Freundin Leonie. Der besitzt jetzt ein Hotel namens „Paradies“, das früher ein Bordell war und ist Spezialist für verrückte Lebensentwürfe.
Unverkennbar stand für das subtile Geflecht der Erzählfäden Mircea Cărtărescu Pate, bei dem die junge Autorin in Bukarest zeitweilig studiert hat, und obwohl Aléa Torik viel spröder und strenger erzählt als er, sind auch ihre Figuren leidenschaftliche Abenteurer und Glückssucher, unterwegs in einer grandios geschilderten, mal undurchdringlichen, mal sich auflösenden Welt, die im Takt der Kapitel pulsiert und atmet. Wir sind gespannt auf ihren zweiten Roman, der „Aléas Ich“ heißen und nächstes Jahr erscheinen soll.
Aléa Torik: „Das Geräusch des Werdens“. Roman. Osburg Verlag, Berlin 2012, 368 S., 19,95 Euro