Eine Stadt mit Berufung zu Toleranz und Europäertum

Zu: Konrad Gündisch/Tobias Weger: Temeswar/Timi{oara. Kleine Stadtgeschichte

Das vorliegende Buch ist ausdrücklich auf ein deutschsprachiges Leserpublikum ausgerichtet. Die Autoren, Konrad Gündisch und Tobias Weger, sind zwei Fachleute für die Geschichte Mittel- und Südost-Europas, eine Region, in deren Zentrum quasi sich Temeswar befindet. Ausgearbeitet wurde das Buch im Rahmen des IKGS an der Ludwig-Maximilians-Universität München und ausdrückliches Ziel war es, das Buch im Rahmen des Jahres herauszubringen, als Temeswar Kulturhauptstadt Europas war.

Schon allein die Vielfalt der Namen, mit denen das heutige Temeswar bezeichnet wurde, schon aus Vorzeiten, führt uns ein in die faszinierende Welt einer Siedlung, in der sich Herrschaften abwechselten, die aber die Menschen sammelte, um ein Haus zu werden für verschiedenste Völker und Sprachen. Die Stadt hat sich übrigens im Laufe der Jahrhunderte der Aufmerksamkeit unterschiedlichster Autoren erfreut, Historiker oder öffentliche Personen, die ihr Chroniken widmeten und Monografien in den verschiedenen Sprachen, die in Temeswar gesprochen wurden und werden. Ich erinnere hier bloß an einen Johann Nepomuk Preyer (1853), Szentkláray Jenö (1872), Lendvai Jenö (1908), Hans-Heinrich Rieser (1992) oder Petru Ilie{iu (2005), verfüge an dieser Stelle aber nicht über ausreichend Raum, um die vielen Studien aufzuzählen, die der Stadt gewidmet wurden, Studien, die vom Universitätszentrum Temeswar, aber auch von diversen ortsansässigen Museums- oder Forschungseinrichtungen der Stadt veröffentlicht wurden. Warum also trotzdem noch eine „Kurze Geschichte” über diese Stadt Temeswar?

1. Weil die vorliegende Geschichte, durch die Art, wie sie konzipiert wurde, alle Existenzperioden der Stadt oder des umgebenden Raums dieser Niederlassung tangiert, wo das heutige Temeswar erschien und sich entwickelte;

2. Weil die Autoren den Versuch unternehmen, alle Völker und Völkerschaften auf die Geschichtsbühne zu zitieren, die zur Entwicklung der Stadt beigetragen haben;

3. Weil durch die Art und Weise ihrer Entwicklung und ihres Seins diese Stadt – wie auch das gesamte Banat – ein Europa en miniature darstellt, indem sie das zivilisierte Zusammenleben von Menschen unterschiedlichster Sprachen und Religionen möglich gemacht hat;

4. Um denjenigen, die sich über diese Stadt mit realem und steigendem Interesse informieren wollen – vor allem im Kontext, da sie Kulturhauptstadt Europas war – ein praktisch nutzbares Instrument in die Hand zu drücken, eine Orientierungshilfe in der Stadtgeschichte und Gegenwart von Temeswar;  

5. All das sind auch Argumente für eine Übersetzung dieses Buches ins Rumänische, denn es hilft, den Platz Temeswars im Kontext der anderen Provinzen und Städte Rumäniens genauer zu lokalisieren, als (in vieler Hinsicht) westlichste Stadt Rumäniens, als Stadt am Kreuzweg zwischen Welten und Räumen, dem Ort, wo Temeswar bis heute überlebt hat.
Die beiden Autoren sind mit diesem Buch nicht bei ihrer ersten derartigen Leistung: Gündisch gab zusammen mit Harald Roth ein Buch über Pécs/Fünfkirchen heraus, Gündisch mit Weger eines über Kaschau/Kosice. Sie sind sich bewusst, dass eine „Kurze Geschichte” keine umfassende Stadtmonografie ersetzen kann.  Doch gerade darin liegt die Herausforderung: auf beschränktem Raum Stadtgeschichte zu rekonstruieren, und zwar praktisch über Jahrtausende. Ein Gleichgewicht zu finden zwischen epochalen Ereignissen globaler Natur und regionalen und lokalen Erschütterungen, ohne wirtschaftliche, politische, kulturelle und soziale Entwicklungen aus dem Auge zu verlieren. Der Leser soll schließlich ein nützliches Instrument in der Hand haben, zur schnellen und trotzdem komplexen Information.

Die Autoren verfolgen praktisch vier große Entwicklungsperioden des Raums, in dem allmählich Temeswar entstand. Temesvár (ung.), Temišvar (serb.), castrum Temes (lat.), Teme{var (türk. osman.), Temeshvar (jiddisch), Temeschburg (dt., die mittelalterliche Bezeichnung, die deutschtümelnd in den 1930er Jahren wiederentdeckt wurde) sind einige ihrer Namen. Erinnert wird an die vorgeschichtlichen Entdeckungen auf dem Gebiet der Stadt, an die dakische und römische Zeit, die Völkerwanderungszeit (vor allem Gepiden und Awaren), an das Glad untergeordnete Gebiet und die magyarische Eroberung, an die Gründung des Bistums von Tschanad unter Gerhard/Gellért/Gerardo, zu dem bereits das Erzdechanat Temesch gehört hat. Und sie verfolgen das Werden der Ortschaft zur Zeit des ungarischen Königreichs, das nach dem Vorbild des deutschen Feudalsystems organisiert war und die Komitate als administrative Grundeinheit nutzte. Die Entwicklung Temeswars von der „villa” zur „civitas”. Erwähnt werden die ersten „comes” – Komitatsherrn – Pankratius und Botho/Poth von Altenburg, die ersten Kolonisten aus dem Abendland unter König Béla IV., die „hospites”, die Rolle Karl Roberts von Anjou, der für fast ein Jahrzehnt die Hauptstadt des Ungarreichs nach Temeswar verlegte und die wachsende Rolle der Stadt im Rahmen des Verteidigungssystems des Ungarreichs. Etwa gegen das Bulgarische Zarenreich von Widin oder gegen die immer bedrohlichere Nachbarschaft des Osmanischen Reichs.

Wichtige Einzelheiten erwähnen die Autoren, etwa das erste Wappen der Stadt, verliehen von König Ludwig I. dem Großen, oder dessen Kampf gegen die Bogomilen in Bulgarien, Serbien und Bosnien, seine Kämpfe mit den Bulgaren, Serben und der Wojwodschaft der Walachei (Vlaicu, 1368).

Nicht zuletzt wird die strategische Rolle der Festung Temeswar gewürdigt, als Ort der Organisation und Ausgangsort für Kriegszüge des ungarischen Königs Sigismund von Luxemburg, der auch König von Böhmen und Kaiser des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation war. Persönlichkeiten wie Filipo Scolari, Johann von Hunyadi (der die Festung Temeswar für seine Familie in Besitz nimmt) oder Paul Kinizsi/Pavel Chinezul, Comes von Temeswar und Vertrauensmann des Königs Matthias Corvinus, werden ebenso erwähnt, wie die Entwicklung von Bildung und Wissenschaft nicht außer Acht gelassen wird. Etwa der europaweit bekannte Franziskanerprediger Pelbarth von Temeswar.

Mit dem Beginn des Untergangs des ungarischen feudalen Königreichs 1526 sind auch die Tage von Temeswar als westlich geprägte Stadt gezählt. Das Ungarreich wird aufgeteilt zwischen Habsburgern, Osmanen und dem Fürstentum Siebenbürgen, das Banat wird von den Osmanen 1552 erobert.

1. Eine erste große Etappe in der Geschichte des Banats und von Temeswar war also jene, durch welche das ungarische Königreich mittels des abendländischen feudalen politischen Systems Teil der westlichen Welt und Zivilisation war. Es war für das Banat und Temeswar die Periode, als man seine Rolle als Grenzprovinz wahrnahm, in Nachbarschaft zum byzantisch-griechischen und später zum osmanischen Raum und zur islamisch geprägten Welt. Nach 1526 ersetzt diese dann die abendländische Welt im Ungarreich, und ab 1552 auch im Banat und in Temeswar.

2. Die Zeitspanne der Installierung und Festigung der osmanischen Verwaltung, die Umorientierung des Banats und Temeswars Richtung Islam. Diese Zeit wird von vielen früheren Autoren pauschal als wirtschaftliche, militärische und kulturelle Niedergangszeit dargestellt. Dem widersprechen die Autoren mit Sachlichkeit und führen auch das Positive an, das während der Türkenzeit in der Provinz und in der Stadt waltete.

3. Die Zeitspanne der politischen, ökonomischen, religiösen und kulturellen Reintegration des Marosch-Theiß-Donau-Karpatenraums in die europäische Welt. Das Temeswarer Banat unter österreichischer Herrschaft und Temeswar, die Hauptstadt der österreichischen Kameralprovinz, beide direkt dem Kaiser untergeordnet durch seine Institutionen, erfahren große und tiefgreifende Veränderungen: die gesamte Provinz wird wieder zur europäischen Region, durch politische und administrative Führung, Wirtschaft, Heer, Kultur, Religion, Lebensweise und -art, Freizeitgestaltung und Zivilisation. Für die Region bricht eine fruchtbare Zeit an. Es werden die Grundlagen geschaffen für ein zivilisiertes, gar freundschaftliches Zusammenleben der Ethnien, die hier auf engerem Raum leben. Als Kronland dem Habsburgerreich integriert, gibt es in der neuen Provinz keinerlei privilegierte Stände – was auch heißt, dass der ungarische Adel seine 1526 und 1552 verlorenen Güter nicht erstattet bekam – und man schafft hier eine Ausgangsbasis, die auf ehrlich verrichteter Arbeit, auf erworbenen Verdiensten und manifester Loyalität gegenüber dem Kaiser beruht. Auch wenn die neuangesiedelte Bevölkerung unbedingt römisch-katholisch sein musste, gab es auf religiösem Gebiet kaum Diskriminierungen. Die orthodoxe Kirche konnte ungehindert Serben und Rumänen betreuen, hatte sogar einige „illyrische Privilegien”. Die Juden nehmen eine wichtige Stelle im Wirtschafts- und Kulturgefüge ein, selbst wenn ziemlich viel Zeit vergehen muss, bis sie gleiche Rechte erlangen. Doch durch Intelligenz, Fleiß, Vermögen und Beziehungssysteme, die bis weit in die islamisch geprägte Welt hineinreichen und diese mit der mitteleuropäisch-wienerischen Welt verbinden, machen sie sich unverzichtbar beim guten Gang aller Dinge. Die so geschaffene komplexe Atmosphäre ist Freiheiten gegenüber günstig, so dass die Autoren glaubhaft auch über die kulturellen und bildungspolitischen Vorteile der Periode referieren.

Auf die Zeitspanne der Revolution von 1848-49 und die 107-tägige Belagerung von Temeswar durch die Truppen der ungarischen Revolutionäre – zu den Verteidigern gehörte auch das wallachisch-illyrische Grenzregiment Karansebesch – folgt eine neuerliche Regimeänderung im Banat: es wird das Kronland Serbische Wojewodschaft und Temescher Banat ausgerufen, als österreichisches Kronland, um 1860 und 1867 erneut dem Königreich Ungarn integriert zu werden. Es folgt, bis zum Ersten Weltkrieg eine Zeitspanne, in der hauptsächlich die Anstrengungen des ungarischen Staats auffallen, „eine einzigartige und einheitliche Nation” herauszubilden, indem durch legislative Maßnahmen die Magyarisierung der nichtungarischen Ethnien forciert wird (Unterrichtsgesetze von 1868 und 1907). Parallel dazu erfolgen neue urbanistische und Wirtschaftsmaßnahmen, mit dem Ausbau des Eisenbahnnetzes, der Einführung des Telefonwesens usw. Die Stadt kennt jetzt das Entstehen einer vielsprachigen Presselandschaft, die Entwicklung des Theaters und der Musikveranstaltungen, die zur Konstante des Stadtlebens werden.

Dem Jahr 1918 wird gebührende Aufmerksamkeit gewährt, der Vereinigung des Banats mit Rumänien, dass Temeswar eine der Großstädte Großrumäniens wird und dass zunehmend die rumänische Identität des Banats betont wird. Die Banater Deutschen erfahren mehr identitäre Anerkennung, einschließlich durch Schulen (Banatia). Der Beitrag der Juden zur zwischenkriegszeitlichen Stadtentwicklung wird gebührend gewürdigt. Auch wird der Rückschritt vermerkt, den die antisemitische Gesetzgebung Rumäniens bewirkte.
4. Die Extraktion aus der abendländischen Welt und ihren Werten, in die sich Temeswar integriert hatte, und der langjährige Versuch der forcierten Integration in eine osteuropäisch-kommunistische Welt ist eine weitere Idee, die die Autoren vertiefen. Sie übersehen keine bemerkenswerten Errungenschaften des Kommunismus in den Bereichen Industrie, Kultur, Universitätsleben, Architektur, sehen aber auch nicht weg, wenn es um den stetig gesteigerten politischen Druck und den tagtäglichen Rückgang der Lebensqualität geht. Um die Menschenrechte und Freiheiten, die mit Füßen getreten werden, verzeichnen aber auch das stetige Bemühen der Bevölkerung, europäisch zu bleiben, was u.a. zu Phänomenen geführt hat wie die literarische „Aktionsgruppe Banat”, aus deren Umgebung die Banater Nobelpreisträgerin Herta Müller hervorging.

Sie unterstreichen, dass im Großraum Temeswar, trotz kommunistischer Restriktionen, das über Jahrhunderte gewachsene europäische Erbe erhalten blieb.

Temeswar wurde so der Ort des Ausbruchs und der Erlösung, durch die Revolution vom Dezember 1989, eine Krönung der jahrhundertealten Stadtgeschichte, wo man in Freiheit zu leben liebte und liebt. Eine Stadt, deren Hauptmerkmale Toleranz und europäische Denkweise sind.

All das breiten die Autoren vor uns aus, diskutieren es innerhalb des nur scheinbar beengten Druckraums eines kleinen Buches, gehen trotzdem in die Tiefe, wo es ihnen nötig erscheint, verbreiten Wissen über Temeswar, das aus der Fachliteratur schöpft, aus Büchern und Archiven, und das schön und treffend illustriert wird.


Konrad Gündisch/Tobias Weger: Temeswar/Timișoara. Kleine Stadtgeschichte, Verlag Friedrich Pustet, Regensburg, 2023, ISBN 978-3-7917-3225-1, 152 S.


Noch in diesem Herbst erscheint das Büchlein „Temeswar/Timișoara. Kleine Stadtgeschichte“  von Konrad Gündisch und Tobias Weger in der Übersetzung von Werner Kremm auf Rumänisch. Es wird gefördert von der neuen Institution, die Bürgermeister Dominic Fritz in Temeswar ins Leben gerufen hat, dem „Managementul Destinatiei Timișoara“. Fritz hat zur rumänischen Variante auch das Vorwort geschrieben. Dieser Text ist das von Kremm ins Deutsche übersetzte und leicht bearbeitete Nachwort von Dr. Rudolf Gräf (das Original ist auf Rumänisch verfasst).