Am letzten Dienstag des Monats Februar wurde Franz Schuberts Opus 89, sein Liederzyklus „Winterreise“, im Bukarester Athenäum aufgeführt. Das im Deutsch-Verzeichnis unter der Nummer 911 geführte Werk entstand 1827, ein Jahr vor dem Tod des Komponisten, der nur 31 Jahre alt wurde. Der vollständige Originaltitel des Werkes lautet: „Winterreise. Ein Cyclus von Liedern von Wilhelm Müller. Für eine Singstimme mit Begleitung des Pianoforte komponiert von Franz Schubert. Op. 89. Erste Abtheilung (Lied I–XII). Februar 1827. Zweite Abtheilung (Lied XIII–XXIV). October 1827.“ Die Solisten des in Zusammenarbeit mit dem Ungarischen Kulturinstitut veranstalteten Liederabends waren der Tenor Tamás Bertalan Henter und die Pianistin Ana-Cristina Silvestru.
Der junge ungarischstämmige Tenor Tamás Bertalan Henter wuchs in Siebenbürgen, in einem Dorf in der Nähe von Sathmar/Satu Mare, auf. Die Familie verließ Rumänien 1988 und Tamás Henter besuchte das Gymnasium in Budapest, bevor er an der dortigen Eötvös-Loránd-Universität Biologie studierte. Parallel dazu widmete er sich der Ausbildung seiner Gesangsstimme. Nach dem Hochschulabschluss in Biologie entschied er sich endgültig für eine künstlerische Karriere. An der Zürcher Hochschule der Künste studierte er Gesang bei den Professoren Lina Maria Åkerlund und Markus Eiche. Seit dem vergangenen Jahr ist Tamás Bertalan Henter Mitglied der Zürcher Singakademie. Sein Repertoire umfasst sowohl geistliche Musik (Johann Sebastian Bach, Georg Philipp Telemann, Francis Poulenc) wie auch Hauptrollen in Opern von Wolfgang Amadeus Mozart, Carl Maria von Weber, Alban Berg und Karl Amadeus Hartmann.
Die junge rumänische Pianistin Ana-Cristina Silvestru, die bereits im Alter von 13 Jahren als Solistin mit der Filarmonica Oltenia Craiova debütierte, begann als 17-Jährige eine beeindruckende internationale Karriere, die sie durch zahlreiche Länder Europas und bis nach Japan führte. Nach Abschluss ihres Studiums an der Nationalen Musikuniversität Bukarest bei Viniciu Moroianu setzte sie ihre pianistischen Studien an der Zürcher Hochschule der Künste bei Konstantin Scherbakov fort. Weitere berühmte Pianisten wie Dmitri Bashkirov oder Ronald Brautigam zählt sie zu ihren Lehrern und Mentoren.
Die Aufführung des Schubertschen Liederzyklus „Winterreise“ im Bukarester Athenäum durch Tamás Bertalan Henter und Ana-Cristina Silvestru ist das Ergebnis einer mehrjährigen künstlerischen Zusammenarbeit der beiden Solisten, die sich auch in der Produktion einer CD manifestierte, welche im Anschluss an den Konzertabend mit den eigenhändigen Signaturen der Künstler erworben werden konnte. Eingeleitet wurde das Konzert durch diverse Redebeiträge. Unter anderen sprachen der Journalist und Politiker Sever Voinescu, der Pianist Viniciu Moroianu sowie seine Schülerin, die Solistin des Abends Ana-Cristina Silvestru.
Danach war die Bühne frei für den Schubertschen Liederzyklus, der in einem einzigen Durchgang ohne Pause dargeboten wurde. Bereits nach den ersten Versen des ersten Liedes „Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh ich wieder aus“, bereits nach den ersten Tönen und Klängen des Konzerts war klar, dass es sich bei dieser Aufführung um einen ganz besonderen Liederabend handeln sollte. Man spürte sofort die Sensibilität, die Behutsamkeit und das gegenseitige Verständnis im Zusammenwirken von Instrument und Singstimme, die nur einer langen und tiefen künstlerischen Vertrautheit entspringen können. Das feine Timbre des Tenors verschwisterte sich mit dem koloristischen Reichtum der pianistischen Begleitung und ließ den Zuhörer einschwingen in einen musikalisch-dramatischen Verlauf, von dem er sich gleichsam schwerelos durch den ganzen Abend tragen lassen konnte.
Für das Textverständnis war auf doppelte Weise gesorgt. Die perfekte Intonation und Aussprache der „Wanderlieder“ und „Gedichte aus den hinterlassenen Papieren eines reisenden Waldhornisten“, wie die beiden editorischen Titel der Müllerschen „Winterreise“-Poeme aus den Jahre 1823 und 1824 lauten, durch den ungarischen Tenor war höchst beeindruckend. Ohne Mühe konnte man den Worten folgen und sie zugleich in ihrer melodischen Amalgamierung mit der Musik genießen. Zuhörer, die des Deutschen nicht mächtig waren, konnten die Liedertexte in einer von einer gelungenen Regie perfekt getimten rumänischen Übersetzung, die simultan auf eine Leinwand projiziert wurde, mit- und nachvollziehen. Die gereimte Übertragung der Müllerschen Gedichte stammte von der Pianistin, Musikkritikerin und Übersetzerin Ana Voileanu-Nicoară (1890-1967).
Der gesamte Konzertabend war gespickt mit musikalischen Höhepunkten, die man in fast jedem der 24 Lieder erleben und mitfühlen konnte. Man begleitete den Wanderer auf seinem winterlichen Weg durch eine Welt der Entfremdung und Isolation, hörte mit ihm das Heulen der Hunde und das Klirren der Wetterfahne, sah seine gefrorenen Tränen fallen und sein Herz in Schmerz erstarren. Man träumte mit ihm am Brunnen vor dem Tore vom schattigen Lindenbaum, man sah mit ihm den vereisten Fluss, in den der Wanderer mit einem spitzen Stein den Namen seiner Liebsten eingeritzt hatte. Man folgte mit ihm einem Irrlicht, wurde Zeuge seiner Ruhelosigkeit auch bei der Rast, erblickte mit ihm Schneeblumen statt Frühlingsblumen, erlebte mit ihm seine Einsamkeit, den Schrei der Krähe, die um sein Haupt flog. Man hörte mit ihm das Posthorn klingen, sah das schwarze Haar der Jugend vom Raureif des Alters überzogen, sah das letzte Blatt vom Baume fallen und die letzte Hoffnung dahingehen, wurde mit ihm vom Sturm geschüttelt und vom Licht getäuscht, das ihm hinter Eis und Nacht und Graus ein helles warmes Haus vorgaukelte. Man stand mit ihm vor dem Wegweiser, der ihm die Richtung seines letzten Ganges wies, sah ihn auf einem Totenacker Einkehr halten, sich gegen alle Widrigkeiten Mut zusprechen, sah mit ihm Nebensonnen erlöschen. Mit den Klängen des Leiermanns verebbten die Klänge des Flügels und die Töne der Singstimme, zugleich brandete im Konzertsaal des Bukarester Athenäums Beifall auf, der optisch noch mit überreichen Blumenbuketts koloriert wurde, von denen der Wandrer der „Winterreise“ in seinen Frühlingsträumen nur phantasieren konnte.