„Stalin, mit dem Spaten voran / Schreitet fröhlich die Gräber entlang“ – Ein Spottlied mit diesem Text lässt heute niemandem mehr einen Angstschauer über den Rücken laufen. Aber der kleine Adrian Loga, eine Romanfigur des Autors Radu Țuculescu, singt diese Liedzeile unmittelbar nach Stalins Tod und wird dafür von seiner Mutter mit strenger Rüge bestraft. Allein das Wort „Stalin“ in einem ironischen Kontext auszusprechen, reichte damals aus, um die Eltern in Panik zu versetzen.
Der Roman „Stalin, mit dem Spaten voran“ ist in deutscher Sprache im Frühjahr dieses Jahres erschienen und auf der Leipziger Buchmesse vorgestellt worden. Der Autor, Jahrgang 1949, lebt in Klausenburg/Cluj und ist nicht nur als Schriftsteller bekannt, sondern auch als Fernsehproduzent, Publizist, Theaterregisseur und Violinist in der Klausenburger Philharmonie. Seine Bücher sind in Frankreich, Italien, Österreich, Tschechien, Ungarn, Serbien und Bulgarien erschienen. In rumänischer Sprache veröffentlichte er „Stalin, cu sapa-nainte“ im Jahr 2009 im Verlag Cartea Românească.
Das Buch ist kontrapunktisch aufgebaut: Zwei grundverschiedene Erzählstimmen treiben die Handlung voran, treten nur selten in ein Verhältnis zueinander und münden schließlich in eine Dissonanz. Die eine Stimme berichtet von der Kindheit des Protagonisten in einer siebenbürgischen Stadt, deren Existenz von einem traditionellen, multikulturellen Milieu, aber auch von den ersten düsteren Auswüchsen des stalinistischen Regimes bestimmt wird. Hinter den Erlebnissen des kleinen Adrian vermutet man immer wieder jene von Radu Țuculescu, der selber in Sächsisch Regen/Reghin aufgewachsen ist und dessen Biografie in Details, Figuren und Momentaufnahmen erkennbar wird. Die heiteren Episoden strahlen Geborgenheit aus, lesen sich rund und geschliffen, zeigen eine unschuldige, kindliche Sicht auf die Welt.
Dann grätscht aber die Gegenstimme dazwischen, die vom erwachsenen Erzähler stammt und im Laufe der Handlung immer greller wird. Hier ist der Text wie aus den Fugen geraten, die Satzzeichen fehlen, die lakonische, banale Liedzeile „life-islifenanananana“ wiederholt sich wie auf einer gesprungenen Schallplatte. Der erwachsene Adrian lebt seinen nichtssagenden Alltag in der postkommunistischen Einsamkeit einer anonymen Plattenbauwohnung. Von der Frau verlassen, der Tochter inzestuös zugeneigt, macht er eine desolate Figur. Die miteinander verflochtenen Erzählstimmen steigern die Handlung bis hin zu einer explizit-pornografischen Begegnung mit der Studentin Kuki und enden im Desaster.
Unterschiedlicher könnten sie nicht sein, der junge und der erwachsene Adrian Loga. Auf der einen Seite unbeschwerte Kindheit, auf der anderen vollkommene Tristesse – diese gescheiterte, gebrochene Biografie macht den Kern des Romans aus. Bezaubernd schildert der Erzähler Kinderstreiche in der Schule oder die absurde Auseinandersetzung mit einem Krankenhauspförtner, der überall Volksfeinde wittert, er zeichnet rührend das Porträt seines strengen, zutiefst religiösen Vaters, beschreibt schillernde Zigeunerfiguren und erinnert sich liebevoll, dass Sachsen „ruhig blieben, wenn mal eine Melone aus ihrem Garten verschwand.“
Der Roman ist so siebenbürgisch-multikulturell, dass man ihn nicht unbedingt im rumänischen Original lesen muss. Die Übersetzung ins Deutsche (Peter Groth) ist sehr gelungen und behandelt auch ur-rumänische Redewendungen („ne ia mama dracului“) ohne Umschweife, was zu einem lustigen, authentischen Ergebnis führt („dann holt uns die Mutter des Teufels“, 26).
Die orthodoxe Fastenzeit, der Ostergottesdienst und das üppige Ostermahl sind über mehrere Buchseiten grandios beschrieben, und der Winteranfang lässt den Leser regelrecht Gänsehaut bekommen: „Langsam und unmerklich, sich leise anschleichend oder über den Boden schwebend wie ein unsichtbarer Geist, kam die Kälte heran. Zunächst als kühle Brise. Eine sanfte Ohrfeige, wie eine diffuse Schneeflocke, die mir die Stirn liebkoste, über die Wangen strich und dann ziemlich schnell bis auf die Zehenspitzen hinabsank. Dann eroberte sie unver-sehens den gesamten Bereich der Terrasse und verwandelte sich in eine durchsichtige Eiskruste, wuchs, wurde dicker und breiter, bedeckte die Balustrade aus roten Ziegeln und breitete sich bis jenseits des Horizontes aus. Um mich herum war nichts mehr als eine unendliche Fläche aus Schnee und Eis.“ (54)
Allerdings wirkt neben der entwaffnenden Ehrlichkeit mancher Kindheitserlebnisse der erwachsene Adrian Loga etwas konstruiert. Einschneidende Erlebnisse wie eine brutale Schlägerei unter Jugendlichen und der Tod des Vaters lassen ahnen, dass der pfiffige Junge nicht unbedingt einen sonnigen Lebensweg einschlagen wird. Auch spiegelt der Autor den Umbruch der Gesellschaft von einer bunten Idylle über den entfremdenden Kommunismus bis hin zum billigen Kommerz überzeugend wider.
Trotzdem hat der ältere Erzähler verschwindend wenige Bezüge zur eigenen Jugend, er ist kaum wiederzuerkennen. Um beim musikalischen Vergleich zu bleiben: Die beiden Stimmen werden (vielleicht absichtlich?) nirgendwo in Einklang gebracht. Auch hätte ein wenig mehr Sparsamkeit bei den Frauenepisoden die prägenden Begegnungen saftiger erscheinen lassen – zu viel Reizvolles wirkt sonst unangenehm-besessen und letztlich trivial. Doch trotz der Kritikpunkte ist dies eine sehr lohnende Lektüre und dürfte gerade für Siebenbürgen-affines Publikum be-sonders anregend sein.