Die Einladung zum fast schon legendären Dorfschreiberfest ins siebenbürgische Katzendorf/Ca]a – von der einheimischen Presse übergangen wie eine unbekannte Melodie –, ließ mich eine Reise in die weite asiatische Welt sausen lassen, weil die ebenso weite, aber näher gelegene Welt der transsilvanischen Zigeuner vor über hundert Jahren doch anziehender war.
Ich kam aus Frankfurt, sah, hörte und war hingerissen. Nicht von den Kirchenburgen, die immer wieder ins Gegenwartsbild geschoben werden, sondern von der liebevollen Sammeltätigkeit eines Einzelgängers, der sein siebenbürgisches Erdenleben 1856 in Kronstadt/Bra{ov begann und zerrissen an Leib und Seele 1907 in Mühlbach/Sebe{ in einem bald vergessenen Grab beendete. Dieser studierte Ethnologe, Sprachwissenschaftler und fundierte Tsiganologe mit dem geerbten k.u.k. Namen Heinrich von Wlislocki erhielt posthum den in eine Katzenskulptur gegossenen Dorfschreiberpreis von Katzendorf 2023. Da Wlislocki notgedrungen nicht anwesend sein konnte, allerdings durch seine Nachdichtungen, Aufzeichnungen und Erläuterungen aus dem Romanes schon überall in Haus und Hof bildgerecht vorhanden war, nahm den Katzenpreis die Romamutter Dalia aus der nahegelegenen Ziganie in Empfang. Überreicht vom ersten Dorfschreiber Elmar Schenkel, dem bewanderten Leipziger Hochschulprofessor und Autoren.Ein bewegender Moment.
Ein Wort zum Anfang galt der berühmten polnischen Romadichterin Papusza sowie dem weltbekannten Jazzmusiker und Begründer des europäischen Gipsy-Jazz, Django Reinhardt, die sich stellvertretend auch für die Roma von Katzendorf bewusst Zigeuner nennen. Sie wollen sich dieses ureigene Wort nicht nehmen lassen, es weiter in der Sprache beheimaten, endlich entlasten. Und der Zauberer Frieder Schuller, Initiator und Gastgeber dieser nicht alltäglichen Veranstaltung, entführte die Gäste in spannend-unerschöpflichen Erzählungen in das so wenig bekannte poetische Reich der Zigeuner. Wlislockis Büchertitel aus den Jahren der Jahrhundertwende 1900 lagen ausgedruckt mit einprägsamen Textzitaten vor aller Augen, und Sätze wie diese machten bald die Runde: Aus dem inneren Leben der Zigeuner, Volksglaube und religiöser Brauch der Zigeuner, Zauber und Besprechungsformeln, Heideblüten – Volkslieder der transsilvanischen Zigeuner.
Und es ging hoch her: mit Gesang, Gedichtrezitationen, Vorträgen und vielen Gesprächen im Garten des Pfarrhauses. Die Lautsprecher vermittelten eine Suite aus der klassischen Musik mit Zigeuneranleihen von Gluck über Verdi, Ravel und Enescu bis hin zur Geigenvirtuosin Patricia Kopatchinskaja aus der Republik Moldau. Sozusagen Hand in Hand erklangen die Weisen des rumänischen „Lautars“ Georges Boulanger und Tudor Pana, unüberhörbar der Jazzsound von Django Reinhardt. Die Gäste durften oder mussten sich aus den herumliegenden Romagedichten eine Abschrift auswählen und nachher bei allen möglichen Gelegenheiten versonnen oder lauthals vorlesen. Wieder ins Reich der hehren Zigeunerpoesie folgte die Schauspielerin Ulrike Döpfer mit Texten der Gegenwartsautorinnen Papusza und Lumini]a Cioab². Unendlich lange die Reihe der Dichter, welche sich mit und ohne Klischee in die Bildsprache der Zigeuner mengten, sei es nun Goethe mit den Mignonliedern oder der kundige Brecht mit seiner im Dreißigjährigen Krieg angesiedelten Zigeunerin Courasche.
Der frische Hirtenkäse und das Hausbrot verlangten nach Wein und Paprikagebäck, welche mitgenommen wurden zu einem gemeinsamen Picknick unter uralte Eichen jenseits des Dorfberges. Hier gesellte sich die Stille, eine nachdenkliche Stille in das beredte Durcheinander der Zigeunerkultur. Via Beamer und Dokumentarfilmen konnten nachher die Wege der Verschleppung und des Verhungerns nachvollzogen werden, ein Verbrechen, das 1941 begann und in der Verbannung der rumänischen Zigeuner unter dem faschistischen Diktator Antonescu nach Transnistrien endete. Zurück in die Gegenwart brachte die Staunenden ein Besuch im Romadorf nebenan. Ein Schlenker über den höher gelegenen siebenbürgisch-sächsischen Friedhof bot sich an und unterstrich noch einmal das Gegenwartsbild. Oben die grauen Betondeckel auf verlassenen Gräbern, unten das lebendige, bunte Treiben.
Die Stunden dieses Beisammenseins im Pfarrhaus von Katzendorf verbreiteten die Sicherheit und Gelassenheit einer mit Bravour umgesetzten Erinnerungskultur, die an die Verse des bekannten Siebenbürgenliedes mahnten: ...und um alle deine Söhne...Land der Duldung, jedes Glaubens sichrer Hort. Hier wurden Menschen aus Bukarest, aus siebenbürgischen Dörfern und Städten, aus Wien, Berlin, München und Leipzig zusammengebracht und mit Gegebenheiten bekannt gemacht, die allzuoft von Blasmusik und Festaufmärschen weggetreten werden. Die in Rumänien hochgeschätzte Sängerin Maria R²ducanu begeisterte und erinnerte mit ihrem unverwechselbarem Vortrag, rauer Stimme und Gitarrenbegleitung, sowohl im Zimmerkonzertsaal oder irgendwo im Garten unter einem Baum an die Leidensgeschichte dieser Ethnie. Elmar Schenkel war 2011 der erste Dorfschreiber in Katzendorf, es folgten Jürgen Israel, Carmen Banciu, Tanja Dückers, Dagmar Dusil, Thomas Perle und Traian Pop. Mehrere Bücher und Radiosendungen entstanden über diese Zeit hinter den Wäldern. Vor zwei Jahren besuchte Erfolgsautor Ingo Schulze Bukarest, kam aber vorher in Katzendorf vorbei und las vor zweihundert Roma aus einem seiner ins Rumänische übersetzten Bücher. Diese Lesung in der pfarrherrlichen Scheune gestaltete sich für Autor und Zuhörer zum Erlebnis. Schulze hatte selten so viele Zuhörer erlebt, eine Romamutter von sieben Kindern hatte noch nie einen Dichter gesehen.
Die drei Tage in diesem siebenbürgischen Frühherbst führten hin zu einem Besinnen und Kennenlernen anderer Welten unter unserem wohlbehüteten Himmel, auch wenn es einmal nur Zeltlager waren. Florian Kührer-Wielach, der aufgeschlossene Direktor des Münchner Instituts für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas, sinnierte mit Recht: Frieder Schuller hat uns zu Wlislocki eingeladen. Empfangen wurden wir in Wlislockis Welt.