Kennzeichnend für Hermannstadt/Sibiu ist das aktuelle Bild Hunderter Zuschauer, die mit gültiger Eintrittskarte in der Hand am Publikumseingang anstehen und erst zum Zeitpunkt des eigentlichen Vorstellungsbeginns in den ausverkauften Aufführungsraum eingelassen werden. Hauptverantwortliche und Volontäre des Internationalen Theaterfestivals Hermannstadt (FITS) haben auch heuer alle Hände voll zu tun, um den Andrang der Menschentrauben vor Spielstätten wie dem Thaliasaal im Stadtzentrum oder der Kulturfabrik im Theresianum-Viertel auf eng gestaffelte Zeitpläne auftretender Tanz- und Theaterensembles abzustimmen. Quer über den Großen Ring/Piața Mare, durch die Heltauergasse/Nicolae Bălcescu und sämtlich verfügbare Veranstaltungsgebäude gab Hermannstadt sich und seinen Gästen aus aller Herren Ländern am Freitag, dem 8. Juni, den Startschuss zu der 25. Auflage des FITS. Allein schon des quantitativen Angebots wegen kommt das zehntägige Festival im Gewand einer Mammutveranstaltung daher, deren Deckmantel nicht ausschließlich Kunst und Kultur erster Güte beherbergt. Um den Qualitätskern des FITS zu erfassen, muss man die meist unbedarften Ereignisse der Sparte Zirkusparaden unter freiem Himmel wohl oder übel meiden und sich stattdessen als erklärter Sieger in den Kampf um Eintrittskarten für Vorstellungen in den großen Veranstaltungsgebäuden einreihen. Und dabei das Glück erhaschen, dass die bespielte Bühne dem persönlichen Geschmack entspricht.
Der choreografischen Erfindungsgabe von Regisseur Gigi Căciuleanu verdanken die Tanzensembles Karma Dance Project (Paris) und Gigi Căciuleanu Romania Dance Company (Bukarest) ihr künstlerisches Selbstbestimmungsrecht in der Choreografie der Vorstellung „Aller-Retour“ (Hin und zurück) am Samstag, dem 9. Juni, auf der Bühne des Thaliasaals. Hauptdarsteller der rumänisch-französischen Koproduktion war der junge Tänzer und Wahlfranzose Daniel Victor Pop, dessen Ausdrucksfähigkeit spätestens infolge des Auftritts in Hermannstadt in aller Munde ist. Im Quartett bestritten zwei Damen und Herren des Karma Dance Projects paarweise den größten Anteil der zeitgenössischen Tanzvorstellung zu rumänischer Foklore und Musik bekannter Namen wie Johnny Răducanu, Paul Ilea und Adrian Nour. Für das getaktete und aus der straffen Routine seines beruflichen Alltags nicht mehr wegzudenkende Reisen auf der Strecke zwischen den Hauptstädten Rumäniens und Frankreichs steht die Überschrift „Aller-Retour“, gibt Gigi Căciuleanu in einem Statement zu erkennen. Anstatt sich wie eine Klette an ein und demselben Ort festzubeißen und die Autonomie einer ihm unterstellten Künstlermannschaft langfristig zu beschneiden, lebt der Regisseur des rumänisch-französischen „Hin und Zurück“ voll und ganz im wiedererstarkten Rhythmus fahrender Meister, die überall auf der Welt zu Gast und in der Kunst zuhause sind. In den Gewässern choreografischer Weltmeere verstehen sich die Gigi Căciuleanu Romania Dance Company Bukarest und das Karma Dance Project Paris als unabhängige Tanzensembles. Die Forderung nach künstlerischer Freiheit verteidigen alle Mitglieder beider Ensembles durch virtuoseste Beherrschung ihrer gestählten Körper. Nicht von ungefähr offenbarte sich die Tanzvorstellung „Aller-Retour“ als ein choreografisches Rezept, an dessen Ausarbeitung die Gasttänzer entscheidendes Mitspracherecht gehabt haben mussten.
Auf dem internationalen Parkett hat sich längst eine für Kulturschaffende unumgängliche Umgangsart eingebürgert, die sich streng daran orientiert, dass aufführende Künstler der Etagen an der Pyramidenbasis in den Spielzügen selbstherrlicher Regisseure und Intendanten nicht mehr die Positionen wehrloser Ausführender einnehmen müssen. Diese Herangehensweise ist nicht mit dem ausdrücklichen Wunsch nach letaler Anarchie zu verwechseln, obschon auch letzteres dann und wann nicht zu verhindern ist. Wer jedoch im Kulturbetrieb als Führungsperson tätig ist und den Weg in visionäre Korridore der Gedankenwelt fähiger Künstler wagt, schenkt dadurch der jeweiligen Kunstform neue Leuchtkraft. Choreograf und Regisseur Gigi Căciuleanu nimmt sich diese Benimmregel zu Herzen.
Am Rande des stürmischen Beifalls für die Tanzvorstellung „Aller-Retour“ drängt sich vielleicht die Denkaufgabe in den Vordergrund, weshalb die unzähligen Abonnementkonzerte des Orchesters der Hermannstädter Staatsphilharmonie den Thaliasaal nicht zu demselben ebenso sprühend optimistischen Aufführungsort formen. Unter der Leitung ihres Intendanten Ioan Bojin hat die Staatsphilharmonie noch einiges nachzuholen, um das 1788 errichtete und 2004 renovierte Theater- und Konzerthaus durch den hauseigenen Musikbetrieb zu einer eingetragenen Kulturmarke werden zu lassen, die keinen Vergleich mit dem FITS zu scheuen braucht. FITS-Intendant Constantin Chiriac, der auch die Geschicke des Hermannstädter Radu-Stanca-Theaters (TNRS) leitet, sucht seit vielen Jahren nach möglichen Erweiterungen der räumlichen Enge des Hauptquartiers am Hermannsplatz/Piața Unirii. Für aktuelle und zukünftige Zwecke der Theaterstadt Hermannstadt muss eine hohe Anzahl Zuschauerplätze herhalten, die in dem Aufführungsgebäude auf der Promenade/Bd. Corneliu Coposu beileibe nicht vorhanden ist. Das alte Gewerkschaftskulturhaus in der neuen Haut des Ion-Besoiu-Kulturzentrums, vor allem aber die Theaterhalle der Kulturfabrik im Theresianum-Viertel mit ihrer weiträumigen Drehbühne sind für Hermannstadt unverzichtbar. Die ausladende Vorstellung „Die Geschichte der unanständigen Prinzessin“ (Povestea prințesei deocheate) des TNRS in der Kulturfabrik am 9., 10. sowie 14. Juni zeigte einmal mehr die von Constantin Chiriac initiierte Verbundenheit Hermannstadts mit Japan. Silviu Purcărete führt Regie in der Kabuki-Vorstellung, die fast alle europäisch-konservativen Theaterauffassungen mit fernöstlicher Geduld auf den Kopf stellt und in ein spannendes Netzwerk japanischer Kunstideale einbaut. In der „Geschichte der unanständigen Prinzessin“ interpretiert Starschauspielerin Ofelia Popii sage und schreibe drei verschiedene Männerrollen. Das Stück stellt abendländische Rachsucht und japanische Selbstachtung in einen Vergleich, in dessen Mittelpunkt der Kampf um das Siegel der Myakodori-Blume, des Inbegriffs der Vormachtstellung, steht. Obendrein widerlegt diese Inszenierung das Vorurteil, dass Regisseur Silviu Purcărete allzeit nur schwer verdauliche Vorstellungen etwa im Stile des „Faust“ konzipiert.
Auch ohne Vorkenntnis der Zuschauer ging die Einmannvorstellung „Pe jumătate cântec“ (Lebenshälfte Lied) der Schauspielerin Anda Saltelechi vom Odeon-Theater Bukarest am Sonntag, dem 10. Juni, in den ausverkauften Publikumsreihen des Gong-Theaters Hermannstadt ihren zielstrebigen Weg. In 70 Minuten spielte Anda Saltelechi das Singen, Sprechen, Flüstern, Lachen und tiefgründige Weinen im Leben einer jungen Dame namens Francesca nach, die als fünfjährige Pionierin einer kommunistischen Provinzstadt die Bühne betritt und sich als alleinerziehende, traurig vom Krebs besiegte 33-jährige Mutter vor dem eigenen Schicksal verneigt. Regisseurin Crista Bilciu ist Drehbuchautorin der unglücklichen Biografie eines jungen Mädchens, das für ihr Leben gerne singt, dabei jedoch stets Hindernisse zu überwinden hat. In welches Labyrinth der Weg führt, wenn sich dem Talent alle Türen versperren, zeigte „Pe jumătate cântec“. Anfangs sprachen noch satte Portionen Humor und Naivität aus dem Monolog der Schauspielerin Anda Saltelechi, doch schloss die Lebensgeschichte der leidgeplagten Francesca auf den Gesichtern der Zuschauer mit Anerkennung für den Sinn und Zweck des Lebens, der all jenen Menschen, denen das Schicksal nicht gewogen ist, allzu oft schmerzhaft entgleitet.