Eminescus Studienjahre in Wien

„Es ist nicht wichtig, was du im Leben tust. Wichtig ist, was du hinterlässt! (Teil 1 von 3)

Porträt von Mihai Eminescu, fotografiert von Jan Tomas (1841-1912) in Prag, 1869 | Fotos: Wikimedia Commons

Die schöne Mutter, Raluca Eminovici, geb. Iurașcu

Vater Gheorghe Eminovici

Mihai und Aglaia Eminovici, Familienporträt aus dem Gedenkhaus Mihai Eminescu in Ipotești

Die Entfaltung des lyrisch-philosophischen Schaffens Mihai Eminescus ist ohne seine Wiener Studienzeit kaum vorstellbar, ja kaum erklärbar. Der Dichter kommt im September 1869 in Begleitung seines Vaters Gheorghe Eminovici, seiner Mutter Raluca und seiner Schwester Aglaia sowie seines Bruders Matei von Czernowitz/Cernăuți über Lemberg (Lwow/Lwiw) und Prag nach Wien.

Im Atelier des Fotografen Jan Tomas auf dem Prager Wenzelsplatz entstand das bekannte Jugendfoto des Dichters sowie eines seiner Schwester Aglaia.

Das Erscheinungsbild des Dichters war nach Aussagen seines Bruders Matei und anderer Augenzeugen imponierend: Größe 1,65 Meter, sehr solide und kräftig, herkulesähnliche Muskulatur, schwarzes Haar, weiß-bräunlicher Teint, dunkelbraune Augen, Nase: gerade, Plattfuß, kleine Hände, normales Gebiss – gelblich vom Nikotin und Tabak, üppiger Haarwuchs, Gangart: nachdenklich, mit gebeugtem Kopf, den Blick nach unten gerichtet, Hände in den Taschen, breitkrempiger Hut, im Winter Astrachan-Pelzmütze, ungepflegter Schnurrbart, den er mitunter mit den Lippen bewegt.

Ankunft in Wien

Die erste Wohnadresse der Familie Eminovici befand sich in der Porzellangasse 9, heute der 9. Gemeidebezirk-Alsergrund. Seit 1865 verkehrte dort eine Pferdestraßenbahn; erst 1897 wurden in Wien die Straßenbahnen elektrifiziert.   

Der Dichter kommt im September 1869 nicht in irgendeine Stadt: Wien ist in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von seiner kulturellen Ausstrahlung her neben Paris die wohl potenteste Stadt auf dem europäischen Kontinent.

Der junge Eminescu war in seinem 19. Lebensjahr. In Wien erlebte er das bunte Treiben rund um die Entstehung der Ringstraße: Die Oper (1869) und die Votivkirche (1871) werden während seines Aufenthaltes fertiggestellt. Parlament, Burgtheater, Rathaus und die neue Universität am Ring sind geplant oder bereits im Bau.

In Wien trifft Eminescu einige seiner ehemaligen Klassenkollegen vom Czernowitzer Obergymnasium sowie einige Bekannte aus der Zeit seines Aufenthaltes in Blasendorf/Blaj und Hermannstadt/Sibiu: Teodor Nica, Ioan Bechnitz, Al. Chibici-Revneau, T. V. Ștefanelli, Iancu Cocinschi, Samoil Isopescu, Petru Novleanu und nicht zuletzt Ioan Slavici.
Dieser hält, Eminescu betreffend, folgendes fest:

Cînd a venit la Viena, Eminescu, deși nu împlinise douăzeci de ani, era om nu numai cu multă știință de carte, ci totodată și sufletește matur și ca îndeosebi mie, care eram cu doi ani mai în vîrstă, mi-a fost, în multe privințe, bun îndrumător – ceea ce le-a mai fost de altminteri și altora dintre colegii lui români din Viena. (Slavici, Ioan: “Amintiri”)

Obwohl Eminescu noch keine zwanzig Jahre zählte, als er nach Wien kam, war er ein Mensch, der nicht nur ein hohes Bildungsniveau, sondern auch seelische Reife erlangt hatte, so dass er insbesondere mir, dem um zwei Jahre Älteren, in vielen Belangen ein guter Ratgeber war, was er übrigens auch für viele andere seiner rumänischen Kollegen in Wien bedeutete.


Slavici und Eminescu wurden durch die Vermittlung des Medizinstudenten Ion Mosanu im Winter 1869 miteinander bekannt. Slavici studierte damals an der Fakultät für Rechtswissenschaften und leistete gleichzeitig seinen Militärdienst in Wien als „Soldat des Kaisers“ ab.

An der Uni

Eminescu inskribierte am 2. Oktober 1869 an der philosophischen Fakultät der Universität Wien als außerordentlicher Hörer. Als solcher war er berechtigt, Vorlesungen zu besuchen und den Nachweis des Vorlesungsbesuchs in einem Index lectionum (Studienbuch) vermerken zu lassen. Weil er aber noch keine Matura (Abitur) hatte, war er nicht berechtigt, bei Prüfungen anzutreten. So gab sich denn der wissenshungrige junge Mann einem ungezwungenen Studium hin, ohne sich viel um die formale Seite dieses Studiums zu kümmern. Laut Matrikeln hatte er nur drei Semester inskribiert: das Wintersemester 1869/70, das Wintersemester 1871/72 und das Sommersemester 1872.

Der Dichter war keinesfalls das, was man einen konsequenten Besucher von universitären Lehrveranstaltungen nennen könnte, sondern bevorzugte vielmehr die Lektüre im stillen Kämmerlein, inmitten von Bergen von Büchern. Und wenn er es doch übers Herz brachte, die heiligen Hallen der Universität aufzusuchen, galt seine Beobachtungsgabe – durchs Fenster – manchmal auch dem Treiben auf den engen Gassen rund um die alte Universität in der heutigen Bäckerstraße bzw. am Ignaz-Seipel-Platz, im 1. Wiener Gemeindebezirk:

Prin ferestre uliternici
noi priveam pe madam Maier,
și priveam cum mamzel Resi
și cu Seppi joacă Ștaier. (Călinescu, George: „Istoria literaturii române de la origini pînă în prezent“)

Durch die Fenster hin zum Gasserl
wir die Madam Maier sehen,
und wie Seppi und das Reserl
hurtig ihren Reigen drehen.

Eminescus unstillbarer Wissensdrang veranlasste ihn jedoch, die verschiedensten Vorlesungen zu besuchen, so dass er sich nicht auf Philosophie, Geschichte und Rechtswissenschaft beschränkte, sondern auch Vorlesungen über Finanzwesen, Gerichtsmedizin, Chemie, romanische Sprachwissenschaft, Biologie, Anatomie u. a. m. hörte.

Andererseits wohnte er auch den chemischen Versuchen im Laboratorium von Prof. Nicolae Teclu an der Technischen Akademie bei. Gerne hörte er die Vorlesungen Adolf Mussafias über romanische Sprachwissenschaft.

Der Dichter eignete sich demnach kein einseitiges Wissen an, sondern war vielmehr bedacht, sich in die verschiedensten Bereiche einzulesen. Die hierfür erforderlichen Bücher stammten entweder aus der Universitätsbibliothek, aus der Hofbibliothek oder aus Buchhandlungen bzw. Antiquariaten, die er häufig belagerte, oder aus den Beständen seiner Kollegen.

Eminescu konnte sich tagelang, entweder auf einem Kanapee ausgestreckt oder durchs Zimmer schreitend, einer Lektüre widmen. Das Hauptaugenmerk galt jedoch der Literatur. Er las viel, auch viel deutsche Literatur, deutsche Übersetzungen; er kannte die deutschen Klassiker bestens aus seiner Zeit im Obergymnasium in Czernowitz.

Rumänische literarische Gesellschaften

Der Dichter fand in Wien zwei von seinen rumänischen Landsleuten gegründete, akademische Gesellschaften vor: Es handelt sich um die Societatea Literară și științifică a Studenților Români din Viena (Die literarisch-wissenschaftliche Gesellschaft der rumänischen Studenten in Wien) – gegründet 1864 – und die Societatea Literar-Socială România (Die sozial-literarische Gesellschaft Rumänien) – 1867 ins Leben gerufen.

Am 20. Oktober 1869 trat Eminescu beiden Gesellschaften bei. Aufgrund seiner Wortmeldungen und konstruktiven Diskussionsbeiträgen wurde der junge sympathische Mann von den Mitgliedern auch bald akzeptiert und erfreute sich einer steigenden Autorität. Eminescu gehörte zu den treibenden Kräften, die den Zusammenschluss beider Vereinigungen zu einer einzigen Gesellschaft, der Societatea Academică Social-Literară România Jună bewirkten, was am 8. April 1871 auch tatsächlich verwirklicht werden konnte: Ioan Slavici wurde Präsident, Eminescu Bibliothekar.

Am 1. Januar 1870 stattete eine kleine Gruppe rumänischer Studenten dem am 23. Februar 1866 zur Abdankung gezwungenen und vorübergehend im Wiener Exil lebenden Rumänischen Herrscher Alexandru Ioan Cuza (* 20. März 1820 Bârlad, Rumänien, † 15. Mai 1873, Heidelberg) einen Besuch  in dessen Wohnung auf der Billrothstraße 26-30, in einem inzwischen abgetragenen Haus, ab. Dieser Gruppe gehörte auch Eminesu an.

(Fortsetzung)


Am 19.Januar 2023 fand anlässlich von Mihai Eminescus Geburtstag (dem 15. Januar – diesmal ein Sonntag) im Rumänischen Kulturinstitut (ICR) in Wien eine dem Dichter gewidmete Veranstaltung statt, bei der in einem Vortrag von Hans Dama „Eminescus Studienjahre in Wien“ beleuchtet wurden. Der Vortrag wird hier – redaktionell leicht bearbeitet – als dreiteilige Serie wiedergegeben. Bei der Veranstaltung haben Schauspieler des Wiener Pygmalion-Theaters, Tino Geirun und Philipp Kaplan, einige bereits in Zeitungen und Zeitschriften in Deutschland, Österreich und Rumänien erschienene Eminescu-Übersetzungen von Hans Dama vortragen.


Über Hans Dama

Hans Dama (geb. in Sânnicolau Mare, Königreich Rumänien) ist ein österreichischer Schriftsteller Banatschwäbischer Abstammung. Er studierte Germanistik, Rumänistik, Pädagogik, Wirtschaftswissenschaften und Geographie an der Universität des Westens Timișoara, an der Universität Bukarest und an der Universität Wien. Seine Diplomarbeit hatte den Titel Sonderformen moderner deutscher Lyrik.

1974 verließ er Rumänien und zog nach Wien, wo er auch promovierte. Seit 1980 unterrichtet er an der Universität Wien. Hans Damas Forschungen konzentrieren sich auf Banater Literatur und interkulturelle Beziehungen und Kulturkunde. Seine literarischen Werke sind in den meisten Fällen in Gedichtform, allerdings schreibt er wie in seinem Band Unterwegs auch in Prosa. Alle seine Werke liegen in der Österreichischen Nationalbibliothek vor.